Was Corona mit der Sprache macht
Schon im Frühjahr 2020 waren hunderte neue Begriffe zu registrieren; hinzu traten viele, die nun wesentlich häufiger als früher in Umlauf kamen, etwa infizieren, Vakzine, Antikörper, Aerosol und vulnerabel. Die »Badische Zeitung« schrieb sogar, Sprache coronisiere sich nun. Schnell zeigte sich der starke Einfluss des Englischen weit über Vokabeln wie Social Distancing, Booster-Impfung, Homeoffice und Superspreader, Shutdown und Lockdown hinaus – oft ganz unabhängig von deren tatsächlicher Bedeutung. Hinzu kam der Juristenjargon vieler neuer Verordnungen. Hier passt der Satz des Münchner Journalisten Hans Kratzer: »Auch die deutsche Sprache leidet unter Corona.«
Wissenschaftliche und neu geschaffene Ausdrücke
Bemerkenswert ist gleichwohl, wie sich welche Vielfalt aus Alt und Neu verbreitete, siehe AHA-Regel, 2G und 3G, Herdenimmunität, Covidiot, Hustenetikette, Maskenpflicht, Impfverweigerer, Flickenteppich, Präsenzunterricht, Distanzschlange, schwedischer Sonderweg und so fort. All das deutet auf einen Sprachwandel, wie es ihn in dieser Fülle und Intensität in so kurzer Zeit und weltweit nur selten, vielleicht noch nie gab. Das erstaunte selbst die Duden-Fachleute.
Martin Weinerts Buch zu diesem Thema ist mit 569 Seiten das, was man einen Wälzer nennt. Doch es ist übersichtlich gegliedert, auch wenn die Darstellung manchmal etwas ausufert. Weinert ist Gymnasiallehrer, seit 2015 Oberstudiendirektor am Würzburger Matthias-Grünewald-Gymnasium und erfahren als promovierter Germanist und Historiker mit mehreren Publikationen; dies ist seine neueste.
Zunächst erläutert der Autor den »Sprachwandel als sprachinhärente Konstante« – Veränderung gehört also stets zur Sprache und deren Gebrauch. Der Autor beleuchtet, wie sich die Sprache während anderer Epochen wandelte, etwa in den Jahren unter Diktaturen wie in der NS-Zeit. Anschließend rückt Weinert Corona in den Mittelpunkt: An einer Fülle von Beispielen zeigt er, wie sich der Wandel etwa im privaten, im politischen, medizinischen, religiösen und sportlichen Bereich vollzog. Eine Zeitung, die »Mainpost« aus Würzburg, hat er sich dafür beispielhaft ein Jahr lang genauer angesehen.
Es folgen Abhandlungen über die Besonderheiten von Fach- und anderen Sondersprachen. Schließlich stellt er in lobenswerter Fleißarbeit dar, was er zum Sprachwandel im Englischen, Französischen, Italienischen, Spanischen und Portugiesischen herausgefunden hat (bedauerlich jedoch, dass er die Zitate nicht übersetzt). Abschließend bietet Weinert »Folgerungen für die Zukunft von Sprache und Kommunikation«.
Untermauert wird das durch 849 Fußnoten und ein Literaturverzeichnis von schier unglaublichen 136 Seiten. Es verweist etwa auf ein »Gebärdenwörterbuch Corona«, auf die Website »Wir möchten unser Kind Corona nennen«, den Hashtag #Coronaspeak und den Zeitungsartikel »Wie Masken unsere Kommunikation beeinflussen«. Schon diese wenigen Titel stehen für die enorme Bandbreite bisher ungewohnter Anwendungen.
Ja, Corona hat Sprache gemacht – und viel mehr: Es hat unser Verhalten mit manchen Einschränkungen massiv beeinflusst und weit darüber hinaus unser Denken, unsere Perspektiven, den Blick in die Zukunft und auf wissenschaftliche Disziplinen. Bei der persönlichen Begrüßung ist der Handschlag fast ganz abgeschafft, und es entwickelten sich nun passende Piktogramme. Andererseits schränkten Masken die Mimik ein.
Der Band enthält 39 Grafiken und Tabellen, zum Teil in Farbe. Leider sind sie zu klein geraten und damit nicht immer leicht zu lesen. Ein Manko ist auch, dass der Verlag das so umfangreiche Buch, dem doch ein langes Leben und Lesen zu wünschen ist, nicht als Doppelbroschur produzieren ließ.
Im letzten Kapitel kommt Weinert auf die Schattenseiten des Sprachwandels zu sprechen. Er plädiert für einen »angemessen emotionalen, aber auf keinen Fall verletzenden Sprachgebrauch«, verschweigt aber nicht, was andere mit dem Thema Befassten dazu ermittelt haben, darunter »Ekel erregende, zutiefst abstoßende und abscheuliche« Wendungen, gar »eine Verrohung der Sprache«, fern von Sensibilität und Mitleid. Das kann die durch Corona ausgelöste Krise noch verschärfen. Nicht ohne Grund brachten es Begriffe aus solchen Zusammenhängen zu Unwörtern des Jahres.
Insgesamt breitet Weinert den Sprachwandel ebenso fundiert wie anregend und bestens belegt aus. Seine Arbeit ist überdies ein sicherer Beweis dafür, wie sehr das Internet bei solchen Analysen hilft. Anders wäre es unmöglich, auf so viel Literatur etlicher Länder zu stoßen. Doch manchmal wäre etwas weniger besser gewesen.
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