»Kritik der großen Geste«: Für Vielstimmigkeit – und kleine Brötchen
»Vielleicht kann das Problem der Textförmigkeit nur musikalisch aufgelöst werden … Aber die Musik hat auch den unschätzbaren Wert, dass sie polyphon und dissonant sein kann. Als polyphone Musik kann sie gleichzeitig mehrere Linien anordnen, die man gleichzeitig, nicht nacheinander hört.« In dieser Passage aus Kapitel 7 (»Exkurs: Das Problem der Textförmigkeit«) beschreibt Armin Nassehi seine stilistischen Intentionen – wie ein Dirigent, der in einer Pause in der Mitte eines »Konzerts« das Musikstück erklärt. Vielleicht sollten deshalb Leser, so die Empfehlung des Rezensenten, zunächst das genannte Kapitel lesen; dann wissen sie, worauf sie sich einlassen.
Sein Essay ist ein soziologischer Text, dessen Sätze und Absätze polyphone Wiederholungen von Themen fast in der Variationsbreite eines barocken Musikstücks entfalten. Dreiklang, Variation und Steigerung der Themen und Formulierungen dominieren das Buch stilistisch. Der Autor präsentiert gleichsam einen musikalischen Text, »in dem sich die Gleichzeitigkeit von Unterschiedlichem darstellen lässt.« Dadurch geraten ihm manche Sätze zu lang, der Stil wirkt gelegentlich überladen und der Text redundant, als ob alle Perspektiven immer gleichzeitig aufscheinen müssten.
Was Nassehi in seinem Büchlein sagt, lässt sich kurz auch so zusammenfassen: ›Leute, glaubt ja nicht, dass große politische Reden, auf Podien deklamiert und als Reformvisionen auf Papier dargeboten, die Gesellschaft irgendwie voranbrächten. Sie sind zumeist selbstgefällig und für die Galerie verfasst, und sie verkennen gerade das, was sie zu ändern beanspruchen: was Gesellschaft ist und wie sie funktioniert.‹ Denn eine Gesellschaft ist, so der Systemtheoretiker Nassehi, eben keine Gemeinschaft aus einem Guss, sondern eine vielstimmige und äußerst träge Masse von Teilsystemen und Individuen, die man kaum aus ihren Routinen herausreißen kann. Ein jeder spielt täglich seine Rollen in den verschiedenen Teilsystemen, denen er angehört, und verharrt im Eingeübten, solange ihn keine größeren Störungen daran hindern. Menschen sind Gewohnheitstiere. Am Beispiel einer prototypischen Familie aus der Mittelschicht erläutert der Autor, wie jedes Familienmitglied seinen Rollen nachgeht, das Leben sich täglich wiederholt und entwickelt, und wie nur eine gravierende Störung dieses Gefüge ändern kann.
Die irritierende Normalität der Krise
Transformation kann, davon ist Nassehi überzeugt, nicht mit der großen Geste gelingen. Das hängt auch damit zusammen, wie sich der öffentliche Raum und seine Wahrnehmung in den letzten Jahrzehnten verändert haben. Zahllose Krisen und Störungen triggern die Menschen, sie erleben sie als »Visibilisierungserfahrung«: Mit den neuen Massenmedien wurde sichtbarer, was vorher »latent blieb«. Das Reden über Krisen, diese neue Sichtbarkeit, erzeugt einerseits das Gefühl von Bedrohung und Fragilität; gleichzeitig verharren die Individuen in ihren täglichen Routinen und gewöhnen sich so selbst an das Krisengerede: Es wird normal. »Deshalb ist die neue Visibilisierungserfahrung so erschütternd. Denn sie verweist auf Unerschütterlichkeit.«
Nassehi will verdeutlichen, »warum eine Gesellschaft auf kollektive Erfahrungen nicht kollektiv reagieren kann, warum man Lösungen nicht einfach auf weißen Blättern vorschreiben kann und warum sich Akteure nicht wie Zinnsoldaten verschieben lassen.« Dieses Thema variiert er gekonnt mit Blick auf das öffentliche Reden über Themen wie Klimakrise, Pandemie, Migration, Modernisierung, Identität, den Umgang mit der rechten Szene et cetera. Er analysiert, wie über solche Themen gesprochen wird, bietet selbst aber bewusst keine konkreten Lösungen. Seine Haltung ist die eines Aufklärers, der betont, dass, wer etwas ändern will, sich den »empirischen Gegebenheiten einer komplexen Gesellschaft« stellen muss – was leider dem Autor zufolge die meisten verkennen..
Ein Marketingprofessor, mit dem der Rezensent einst ein Projekt geleitet hatte, wiederholte gern sein Credo: »Man muss kleine Brötchen backen, die aber richtig.« Ähnlich äußert sich auch Nassehi: »Gesellschaftliche Transformation kann nicht als große Form funktionieren, sondern nur als eine, die in konkreten Situationen erfolgreich sein kann. Das ganze Programm der kleinen Schritte läuft längst …« – und dazu führt er zahlreiche Beispiele auf, etwa Änderungen in Geschlechterrollen und der Erziehung, neue Führungskonzepte oder technische Innovationen. »Kleine Schritte sind solche, die in konkrete Situationen passen«, sie helfen der Evolution der Gesellschaft »auf die Sprünge«.
Nassehis Buch ist eine gelungene Aufforderung zum Weiterdenken und zur Praxis des Fortschritts in kleinen Schritten. Stilistisch ist es ein Plädoyer für die Vielstimmigkeit von Demokratien. Seine Warnung gilt ihrer Einschränkung: »Ein starkes Wir muss entweder das Sprechen eingrenzen oder die Störenden ausgrenzen.«
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