»Künstliche Intelligenz«: An der Schwelle zu einer neuen Zeit?
Manfred Spitzer veröffentlichte bereits zahlreiche populärwissenschaftliche Bücher zum Thema Digitalisierung, in denen er die komplexe Materie verständlich macht. Als Neurowissenschaftler ist er dafür prädestiniert, Wissen über neuronale Netzwerke zu vermitteln – und tut dies im vorliegenden Buch.
Sehr ausführlich blickt der Autor in die Vergangenheit. Er schildert die Historie der Informatik, um verständlich zu machen, wie sich Künstliche Intelligenz entwickelt hat. Beginnend bei Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716), der die erste mechanische, binäre Rechenmaschine erfand, wird chronologisch die Entwicklung der Computertechnik rekonstruiert. Diese Geschichtsstunde veranschaulicht, wie rasant sich die Informationstechnologie im 20. und 21. Jahrhundert entfaltet hat.
Doch wie funktionieren neuronale Netzwerke? Die Voraussetzungen zum Verständnis neuronaler Netze schafft Spitzer, indem er zunächst den Aufbau des menschlichen Nervensystems erläutert. Dann werden ausführlich, Schritt für Schritt und damit gut nachvollziehbar, der Aufbau und die Funktion neuronaler Netzwerke erklärt.
Von der Theorie kommt Spitzer zur praktischen Umsetzung. Er präsentiert ein breites Spektrum von Anwendungsbeispielen aus den verschiedensten wissenschaftlichen Disziplinen wie Mathematik, Chemie, Medizin, Meteorologie und Archäologie. Aber auch KI-Systeme für alltägliche Anwendungen, wie Predictive Policing (vorhersagende Polizeiarbeit) oder die Prognose von Aktienkursen, werden vorgestellt. Natürlich dürfen auch Ausführungen zu großen Sprachmodellen (»LLM«) wie ChatGPT nicht fehlen, die Spitzer manchmal salopp als »Plauderroboter« bezeichnet. Die Beispiele sind so detailliert beschrieben, dass sie einen guten Einblick in die Charakteristik von KI-Systemen vermitteln, bei denen zwar Eingangsinformationen und Ergebnisse bekannt sind, die Verarbeitungswege aber intransparent bleiben, so dass die Entscheidungen der lernfähigen KI nicht nachvollziehbar sind.
Künstliche Intelligenz und die Frage der Verantwortung
Ein Kapitel befasst sich mit der Nutzung von KI zu militärischen Zwecken, wobei deren mögliche Gefahren besonders deutlich werden. Ihre Stärken – hohe Verarbeitungsgeschwindigkeit, schnelles Durchsuchen großer Datenmengen und Mustererkennung – prädestinieren die KI zwar für den militärischen Einsatz (etwa für autonome Waffensysteme wie Drohnen oder KI-gestützte strategische Entscheidungen), aber bisher lag die Entscheidung über Leben und Tod bei Menschen. Zu der Frage, ob das im Ernstfall auch zukünftig noch so sein werde, merkt Spitzer an: »Es ist daher kaum anzunehmen, dass die Militärs weltweit freiwillig auf die neuen Fähigkeiten verzichten.«
Auch jenseits militärischer Anwendungen benennt der Autor potenzielle Gefahren, etwa wenn künstliche Intelligenz abweichend von der ursprünglich beabsichtigten Nutzung eingesetzt wird. Ein weiteres Risiko besteht darin, dass KI-Anwendungen mit Daten gefüttert werden, denen zumindest teilweise menschliche Vorurteile zu Grunde liegen. Wenn die entsprechende KI auf dieser Basis Entscheidungen trifft, zum Beispiel bei Auswahlverfahren, werden diese Vorurteile reproduziert und praktisch wirksam. Mit Blick auf mögliche Folgen des Einsatzes von künstlicher Intelligenz formuliert Spitzer die Erwartung: »Die Verantwortung trägt derjenige, der die KI publiziert bzw. vermarktet.« Doch welche Konsequenzen eine solche Verantwortung hätte, konkretisiert er nicht. Trotz der Datenschutz-Grundverordnung, des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes und der KI-Verordnung der EU stellt Spitzer fest: »Die Politik läuft der Entwicklung hinterher.«
Dieses faktenreiche und auch unterhaltsame Buch vermittelt eine differenzierte Sichtweise auf den Einsatz von künstlicher Intelligenz. Das Buch ist übersichtlich strukturiert, ein Fazit am Ende jedes Kapitels hilft beim Rekapitulieren des Gelesenen. Wer etwas über die Wurzeln der KI, ihre vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten und auch über ihre potenziellen Nachteile erfahren möchte, wird sein Wissen mit diesem Buch bereichern können. Beeindruckend ist, dass sich die meisten Referenzen auf Studien oder Artikel aus dem Jahr 2023 beziehen und damit große Aktualität besitzen.
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