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Real gewordene Gefahr

In der westlichen Wohlstands- und Wohlfühlwelt wird der Klimawandel eher als abstraktes Phänomen wahrgenommen. Andernorts macht er sich bereits sehr konkret bemerkbar.

Während es industrienahen Akteuren seit Jahrzehnten gelingt, die organisierte Leugnung des Klimawandels zu fördern und Klimaschutzmaßnahmen zu verzögern, sind Millionen Menschen bereits jetzt existenziell von klimatischen Veränderungen bedroht, wie dieses Buch zeigt. Sie leiden unter Unwetter- und Dürreereignissen, aber auch unter einer Verschärfung sozialer Probleme. Fünfzehn Reportagen lassen hautnah miterleben, wie Menschen in verschiedenen Weltgegenden dies erleben und sich daraus zu befreien versuchen.

Die UN-Klimakonferenz in Kopenhagen im Jahr 2009 endete mit einem Debakel; die Staats- und Regierungschefs konnten sich auf keinen Weltklimavertrag einigen. Dieses enttäuschende Ergebnis trug mit dazu bei, dass sich die promovierte Historikerin und Journalistin Susanne Götze auf Reisen begab. Sie suchte Gegenden auf, in denen Menschen längst unter den Auswirkungen des Klimawandels zu leben haben. Bis 2017 entstanden daraus fünfzehn Reiseberichte und drei Interviews. Die meisten von ihnen sind bereits vorab in verschiedenen Medien erschienen, darunter Frankfurter Rundschau, Süddeutsche Zeitung, Der Freitag oder Klimaretter.de. Zusammen mit sechs weiteren, bislang unveröffentlichten Berichten liegen sie nun in diesem Buch gebündelt vor, jeweils versehen mit einem erläuternden und einordnenden Text.

Wertlos gewordene Erfahrungen

In vier Kapiteln (Afrika, Europa, USA und Naher Osten) berichten die Beiträge von Begegnungen mit Bauern, Bürgermeistern, Wissenschaftlern und Umweltschützern zehn verschiedener Länder. Götze ließ sich von ihnen erzählen, welche Ängste, Hoffnungen und Einsichten sie umtreiben. Im fünften Kapitel kommen die beiden renommierten Klimaforscher Hans Joachim Schellnhuber und Johan Rockström zu Wort, ebenso wie Geoffrey Parker, Umwelthistoriker an der Ohio State University in den USA. Ein Vorwort der Autorin und ein Nachwort des Klimaforschers Mojib Latif, in dem dieser an die Einsicht der Menschen appelliert, runden die Artikelsammlung ab.

Der Klimawandel ist nicht abstrakt und findet auch nicht erst in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts statt, macht die Lektüre klar. Er ist konkret, hat bereits vor Jahrzehnten begonnen und entwickelt sich rapide weiter zu einer existenziellen Bedrohung. Aktuell betreffen seine Folgen vor allem Menschen, die traditionell in und mit der Natur leben und auf sie angewiesen sind. Besuche bei rentierzüchtenden Samen im finnischen Lappland, bei Kleinbauern und Winzern in Südwesteuropa und bei afrikanischen Viehhaltern und Bauern lassen erkennen, dass über Jahrhunderte hinweg tradierte Erfahrungen wertlos und die Existenzen dieser Menschen prekär geworden sind.

Während die Lebensgrundlagen der einen ins Wanken geraten, wittern andere ihre Chance. So träumt der Chef der finnischen Vertretung der EU-Handelskammer in Rovaniemi von eisfreien Handelsrouten durchs arktische Meer und von der Entwicklung seiner Stadt hin zu einem globalen Umschlagplatz. Ein Traum, den er mit anderen Politikern und Unternehmern teilt, vor allem solchen aus Russland und China. In der westlichen urbanisierten Wohlstands- und Wohlfühlwelt wabere der Klimawandel eher abstrakt und verharmlost durch die Debatten, wie die Autorin zeigt. Nach dem Verursacherprinzip stehe aber eigentlich der Westen in der historischen Verantwortung, sich des Problems anzunehmen. Doch für mehr als Absichtserklärungen reiche es nicht, beklagt Götze. Selbst gut gemeinte EU-Klimaschutzprojekte könnten aufgrund nachlässiger Kontrollen fatale Auswirkungen auf lokale Bevölkerungen und Umwelt haben. In Uganda etwa verdrängten zertifizierte Holzplantagen im Kampf um fruchtbares Land die lokalen Kleinbauern.

Götzes Reportagen verdeutlichen: Der Klimawandel bedeutet nicht nur steigende Temperaturen und veränderte Niederschlagswerte, er stellt vielmehr einen regelrechten Risikomultiplikator dar. Dies gelte vor allem in Gegenden, deren soziale Situation ohnehin schon instabil und desolat sei. So sinkt der Wasserspiegel des Toten Meeres dramatisch, seit Israel den Jordan verstärkt beansprucht. Dies verursacht nicht nur große Einsturzlöcher entlang der Küste, die der Tourismusbranche der Anrainerstaaten den Garaus machten, sondern gefährdet auch das Süßwasser in der gesamten Region, welches nun vermehrt ins Tote Meer fließt und damit unbrauchbar wird. Hohe Geburtenraten und sich ausweitende Obst- und Gemüseplantagen erhöhen den Wasserverbrauch stetig weiter. Zugleich gehen infolge des Klimawandels die Niederschläge zurück und erhöhen sich die Verdunstungsraten, was die Konkurrenz um die verbleibenden Wasserressourcen immer mehr verschärft und es schwieriger als je zuvor macht, nach gemeinsamen Lösungen zu suchen. In Ländern südlich der Sahara wiederum ist es ein fataler Mix aus jahrzehntelangem Raubbau infolge lukrativen Baumwollhandels und unberechenbar gewordenen Wetterereignissen, der nun hochgradig existenzgefährdend wirkt.

Aus dem Buch geht hervor, wie die betroffenen Menschen nach Auswegen suchen. Dazu können dezentrale Wetterstationen beitragen, die präzisere Wetterprognosen liefern und eine angepasste Fruchtfolgeplanung zulassen, aber auch effizientere Bewässerungs- und Pflanzenbeobachtungstechniken, die einen gezielteren Einsatz von Wasser, Dünge- und Pflanzenschutzmitteln ermöglichen. Auch die Anpflanzung neuer Sorten, um den Weinanbau fortzusetzen, nennt die Autorin. Besonders bemerkenswert ist das Engagement des marokkanischen Königs, der die muslimischen Prediger für die Energiewende sensibilisiert und sämtliche Moscheen des Landes auf Solarstrom umrüsten lässt. Unterdessen streicht US-Präsident Trump Gelder für die Klimaforschung und steigen die Immobilienpreise der Florida Keys trotz absehbarer Zunahme von Überflutungen immer weiter.

Die detailreiche Reportagen-Sammlung berührt mit ihren konkreten Einzelschicksalen und rüttelt dazu auf, sich aus der Lethargie des untätigen Desinteresses zu befreien.

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