Aus der russischen Provinz zum Weltruhm
Eigentlich müsste der Titel "Liebe zur Mathematik" lauten. Edward Frenkel, geboren 1968 als Eduard Frenkel in Russland, erzählt uns die Geschichte seines Lebens und die seiner Beziehung zur Mathematik, was im Wesentlichen auf dasselbe hinausläuft.
Wie in diesem Fach üblich, ist es nicht Liebe auf den ersten Blick, und sie erwacht auch nicht im Schulunterricht. Aber in der russischen Industriestadt Kolomna, wo der Autor aufwächst, findet sich ein väterlicher Freund namens Jewgeni Jewgenjewitsch Petrow. Er führt den fünfzehnjährigen Eduard von dessen ursprünglichem Interessensgebiet, der Elementarteilchenphysik, weg und zu deren Grundlage, der Theorie der Symmetriegruppen, hin.
Sowjetischer Antisemitismus
Eduard schließt die Schule mit der Bestnote ab, tritt zur Aufnahmeprüfung an der renommierten Moskauer Staatsuniversität MGU an – und bekommt den damals dort herrschenden Antisemitismus mit aller Härte zu spüren. Weil sein Vater Jude ist, quälen ihn zwei eigens ausgesuchte Prüfer stundenlang mit den härtesten Aufgaben und lassen ihn am Ende gnadenlos durchfallen. Erst hinterher im Fahrstuhl, sicher vor den Ohren irgendwelcher Lauscher, gibt einer der Prüfer ihm gegenüber zu, dass er Bestleistungen erbracht habe, und empfiehlt ihm, sich am Moskauer Institut für Öl und Gas ("Kerosinka") zu bewerben.
Zumindest in dieser krassen Form kann es Antisemitismus in der Sowjetunion nicht immer gegeben haben, und zur offiziellen Ideologie passte er sowieso nicht. Der Schreiber dieser Zeilen begegnete der sowjetischen Mathematik erstmals während seines Studiums in Form des Buchs "Verallgemeinerte Funktionen", und dessen Erstautor hieß Israel Gelfand. Genau diesen Mann schildert Frenkel in seinem Buch als zentrale, mit großer Machtfülle ausgestattete Figur des Moskauer Wissenschaftsbetriebs. Gelfand (1913–2009) war noch als über 90-jähriger wissenschaftlich aktiv.
Am Kerosinka besteht Frenkel mühelos die Aufnahmeprüfung. Gegen die angewandte Mathematik, die er dort lernt, hat er nichts; aber für ihn verhält sie sich zur "richtigen" Mathematik wie die Ehefrau zur heimlichen Geliebten. Abermals findet er Förderer, die ihm auf inoffiziellen Wegen Zugang zu ihr verschaffen – und später sogar einen Passierschein zur MGU, so dass er nicht mehr über den Zaun klettern muss, um eine Vorlesung zu hören. Er löst ein schwieriges Problem, darf darüber in Gelfands berühmt-berüchtigtem Seminar vortragen und hinterher sogar in jener Zeitschrift veröffentlichen, die Gelfand kontrolliert und die im Westen als "Functional Analysis and its Applications" bekannt ist.
Die letzten Tage der UdSSR
Gleichwohl sieht es äußerst düster aus für eine Berufslaufbahn als Mathematiker. Da eröffnen sich just zur rechten Zeit im Fahrwasser der Perestroika ungewohnte Freiheiten, und prompt lädt die Harvard University den 21-jährigen zu einer Gastprofessur ein. Offenbar hat eine gemeinsame Arbeit mit seinem Freund und Lehrer Boris Lwowitsch Feigin, die nur in wenigen Exemplaren kursiert, bei den amerikanischen Fachkollegen Eindruck gemacht.
Entgegen seinen ursprünglichen Absichten kehrt Frenkel nicht wieder in sein Heimatland zurück. Schon während seiner ersten Monate in Harvard ist abzusehen, dass die ehemals so starke Gemeinschaft der russischen Mathematiker sich in alle Winde zerstreut und die wenigen Verbliebenen von ihrem Gehalt nicht mehr leben können. Zudem lockt ihn die Aussicht, sein Leben ganz seiner großen Liebe widmen zu können. Und das tut er, seit 1997 an der University of California in Berkeley, bis zum heutigen Tag.
Das Buch ist ungewöhnlich insofern, als der Autor uns überaus detailliert an seiner großen Liebe teilhaben lässt. Jedes Kapitel ist durchsetzt mit ausführlichen mathematischen Erläuterungen. Das fängt an bei den elementarsten Symmetrien und geht weiter über Zopfgruppen, Galois-Gruppen, Körpererweiterungen (siehe Spektrum der Wissenschaft 4/2012, S. 52) und elliptische Kurven (Spektrum der Wissenschaft 1/2009, S. 62), die er seltsamerweise nicht beim Namen nennt, bis hin zum Langlands-Programm, das er entscheidend vorangetrieben hat. In einem Brief hatte der kanadische Mathematiker Robert Langlands 1967 eine mutmaßliche Verbindung zwischen zwei scheinbar weit auseinanderliegenden Gebieten der Mathematik skizziert, der Zahlentheorie und der Theorie der riemannschen Flächen. Seither hat diese Idee zunehmend Form angenommen. Eine der zahlreichen Brücken, die dabei gebaut wurden, führte zum Beweis des großen fermatschen Satzes, und Frenkels eigene Arbeiten etablieren eine Verbindung zur Quantenmechanik und zu den unzähligen Varianten der Stringtheorie.
Auch das erzählt uns der Autor mit großer Hingabe und fantasievollen Vergleichen. Doch die Themen, mit denen er sich am Ende befasst, kann man beim besten Willen nicht mehr elementar darstellen. Dort steigen auch Leser aus, die bis dahin die oft seitenlangen Anmerkungen geduldig durchgeackert haben.
Und die Liebe im landläufigen Sinn? Ist nicht Thema des Buchs.
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