Entdeckerin der Kernspaltung
Auf den Moment, als die Kisten mit den Akten zur Nobelpreisvergabe von 1944 geöffnet wurden – nach Ablauf der Sperrfrist von 50 Jahren –, hatten viele gewartet. Jetzt endlich konnte das Rätsel gelöst werden, warum die Physikerin Lise Meitner damals keinen Nobelpreis für ihre bahnbrechende Entdeckung der Kernspaltung erhalten hatte, sondern nur ihr Kollege Otto Hahn. Die bis Mitte der 1990er Jahre verschlossenen Aufzeichnungen zeigen: Der Preis wurde ihr nicht aus wissenschaftlichen Gründen verwehrt. Querelen und Intrigen schwedischer Physiker waren die Ursache, und noch schwerer wog die Tatsache, dass nicht eine Frau diesen Preis bekommen sollte. Dabei waren viele andere führende Wissenschaftler wie Erwin Schrödinger oder Max Born anderer Meinung – laut Akten wurde Meitner 48-mal für diesen Preis vorgeschlagen.
Die neue Biografie erscheint passend zum 50. Todestag der Wissenschaftlerin, die 1878 geboren wurde und zwischen den beiden Weltkriegen zur bedeutendsten Physikerin Deutschlands avancierte. Der Politikwissenschaftler David Rennert und die Physikerin Tanja Traxler erzählen in dem Werk aus der Vita Meitners und ihrer Weggefährten. Unter anderem erfährt man, wie ihr Nachbar Fritz Haber sie drängte, mehr und mehr von ihren Räumen für seine kriegsrelevanten Experimente zur Verfügung zu stellen, dass Otto Hahn die Giftgasversuche im Ersten Weltkrieg begleitete und dass Einstein ihr ein Jobangebot unterbreitete. Die Autoren zitieren viel aus den Briefen von Meitner, Hahn, ihren Freundinnen und anderen Wissenschaftlern. Das wirkt so authentisch, als wäre man anwesend, wenn die Geburtstagsgrüße von Einstein eintrudeln, der sie als »unsere Madame Curie« bezeichnete, oder wenn sie von ihren erschreckenden Erlebnissen beim Verbandswechsel als Röntgenschwester berichtet.
Aus Deutschland geflohen
Doch den Autoren ist nicht nur die wissenschaftliche und familiäre Welt Meitners wichtig. Sie schildern ebenso, wie die an die Macht gekommenen Nazis zunehmend jüdische Menschen verfolgten und ermordeten. Meitner nahm trotz ihrer jüdischen Wurzeln das drohende Unheil nicht richtig ernst. Andere dagegen schon: Sie erhielt ab 1933 Angebote, im Ausland zu arbeiten, aber sie ließ sich von ihren Kollegen zum Bleiben überreden. Bis sie schließlich in einer Nacht-und-Nebel-Aktion 1938 überhastet das Land verließ, nachdem sie 31 Jahre in Berlin unermüdlich geforscht hatte.
Im schwedischen Exil erreichte sie eine Anfrage Otto Hahns, mit dem sie vorher zusammen geforscht hatte. Er konnte die von ihm allein weitergeführten Versuche ohne ihre Mithilfe nicht deuten: »Du tust ein gutes Werk, wenn du einen Ausweg findest.« Lise Meitner kam nach wenigen Tagen zu der bahnbrechenden Erkenntnis, dass in den Experimenten Atomkerne gespalten worden waren. Die wechselseitigen Briefe der beiden zeigen, wie danach die Nerven blank lagen und sich immer mehr Missverständnisse in den Schriftwechsel einschlichen.
Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg nimmt im Buch nur wenig Platz ein. Von vielen internationalen Preisen nahm sie die renommierte Auszeichnung der US-Atomenergiekommission »nur mit halber Freude« an, denn den Bau der Atombombe sah sie als »Übel«.
Die Autoren lassen die Kriegsbegeisterung Meitners im Ersten Weltkrieg oder ihre früheren Vorurteile gegenüber Frauen in der Wissenschaft nicht aus. Sie heben aber hervor, dass die Physikerin in der Lage war, nicht nur ihre wissenschaftliche Arbeit zu revidieren, sondern auch ihre politischen und gesellschaftlichen Überzeugungen: »Später habe ich begriffen, wie irrtümlich diese meine Auffassung war und wie viel Dank speziell jede in einem geistigen Beruf tätige Frau den Frauen schuldig ist, die um die Gleichberechtigung gekämpft haben.«
Das Buch ist flüssig zu lesen und auf Grund der vielen Details absolut lesenswert. Auch wenn vieles schon bekannt ist, das Verdienst der Autoren ist es, mehr als 550 Literaturstellen fließend eingewoben zu haben, darunter bislang unveröffentlichtes Archivmaterial aus den Nachlässen von Meitner und Hahn. Sie bringen dem Leser nicht nur die Physikerin nahe, sondern schaffen ein Gefühl für die damalige Wissenschaftsszene und das gesellschaftliche Umfeld.
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