Kampfbegriff auf dem Prüfstand
Seit einiger Zeit geistert das Wort "Lügenpresse" durch die öffentliche Debatte. Konkret seit 2014, als die Ukraine-Krise eskalierte und Pegida entstand. Was hat es mit dem Begriff auf sich? Woher kommt er, was bezweckt er, warum verbreitete er sich? Dem geht das vorliegende Buch nach. Irene Neverla und Volker Lilienthal, die Herausgeber, sind Professor(inn)en für Journalistik und Kommunikationswissenschaft an der Uni Hamburg. Ihr Band versammelt Beiträge von Kommunikationswissenschaftlern, Medienforschern, Soziologen, Medienrechtlern sowie von bekannten Journalisten, Publizisten und Verlegern.
"Lügenpresse" markiert einen extremen Vertrauensverlust: Der Begriff spricht Medien pauschal jede Glaubwürdigkeit ab. Er ist nicht neu und politisch auch nicht fest zugeordnet, wie Publizist Norbert Schneider erläutert. In deutschen Landen sei das Wort erstmals 1848 aufgetaucht, zunächst im Kontext nationalistischer und antisemitischer Polemiken. Später habe die deutsche und italienische Linke den Begriff übernommen. Nazis hätten ihn ebenso gebraucht wie Antifaschisten, DDR-Politiker und die RAF. Auch US-Präsident Trump hat Pressevertreter pauschal als Lügner bezeichnet.
Aversion gegen Fakten
Im derzeitigen Wortgebrauch geht "Lügenpresse" über eine bloße Unterstellung der Unwahrheit weit hinaus, wie Irene Neverla darlegt. In dem Begriff spiegle sich das übergeordnete Narrativ von betrügerischen Eliten, die sich miteinander verschworen hätten. Damit gehe eine Anti-Faktizität einher, so wie auch mit anderen Verschwörungstheorien – ein emotional aufgeladener Widerwille gegen Fakten und Evidenz. Er setzt gefühlte an die Stelle von belegbaren Realitäten.
Gut beobachten lässt sich das in der Klimadebatte. Kommunikationswissenschaftler Michael Brüggemann beschreibt die Leugnung des anthropogenen Klimawandels durch Akteure, "die es besser wissen können und müssten und die ein professionelles Interesse daran haben, dass effektive Klimaschutzpolitik scheitert". Welche das sind und wie sie Journalisten und Klimaforscher als Lügner darzustellen versuchen, um sich selbst als Anbieter alternativer Wahrheiten zu positionieren, schildert Brüggemann recht konkret. Auch legt er dar, was man dagegen tun kann, und warnt vor einem undifferenzierten Gebrauch des Begriffs "Leugner". Die Bezeichnung sei angemessen gegenüber politisch Handelnden, die absichtlich die Unwahrheit verbreiten – aber fehl am Platz gegenüber verunsicherten oder schlecht informierten Menschen oder gegenüber berechtigter Kritik an der Klimaforschung.
Die Verbreitung des "Lügenpresse"-Verdikts führen viele darauf zurück, dass in Deutschland das Vertrauen in die Medien dramatisch gesunken sei. Ein Irrtum, wie die Kommunikationswissenschaftler Nayla Fawzi, Magdalena Obermaier und Carsten Reinemann anhand verschiedener Studien darlegen. Langfristige Erhebungen, etwa die repräsentativen Allensbach-Befragungen oder die große European/World-Values-Studie, belegen demnach, dass die prozentualen Vertrauenswerte hinsichtlich der Presse seit Beginn der 1990er mitnichten gesunken, sondern sogar leicht gestiegen sind. Auch im Vergleich zu anderen gesellschaftlichen Institutionen stehen deutsche Medien erstaunlich vertrauenswürdig da, ebenso im internationalen Vergleich. Aus den Daten geht aber auch hervor, dass 20 bis 25 Prozent der Deutschen sich schon seit langem in fundamentalem Medienmisstrauen üben – unter anderem wohl, weil sie sich als einflusslos wahrnehmen und in der etablierten Presse nicht repräsentiert sehen. Diese Gruppen sind demzufolge nicht unbedingt größer geworden, artikulieren sich aber aggressiver als früher.
Gefühlte Konsistenz in den "sozialen Medien"
Befördert wird das von der Digitalisierung, führt die Kommunikationswissenschaftlerin Katharina Kleinen-von Königslöw aus. Gut nachvollziehbar erklärt sie, wie die "sozialen Medien" die Glaubwürdigkeitsheuristiken der User verändern – weg von Reputation und hin zu Empfehlungen und Selbstbestätigung. "Das Problem ist, dass soziale Netzwerke den Eindruck von Konsistenz verstärken, auch wenn dies nicht der allgemeinen Informationslage entspricht." Hierdurch entstünden Echokammern und Filterblasen, in denen sich Ansichten entkoppelt von Evidenz verfestigen und dann umso wütender verfochten werden. Das kann bis zu körperlichen Angriffen auf Journalisten gehen, die – à la "Lügenpresse auf die Fresse" – vor allem im Umfeld rechtspopulistischer Versammlungen zwischenzeitlich stark zugenommen haben, wie Medienforscher Martin Hoffmann dokumentiert.
Mehrere Autoren, allen voran die Medienwissenschaftler Michael Haller und Uwe Krüger, sprechen Probleme im Journalismus an, die zu einer Entfremdung zwischen Presse und Publikum beitragen. Sie nennen die manchmal ungesund konforme Berichterstattung etablierter Medien; die mitunter zu große Nähe zu Eliten und zum Politikbetrieb; Beschleunigungszwang und Sensationalismus in vielen Redaktionen, gepaart mit Personalabbau, Deprofessionalisierung und dem ständigen Schielen auf Reichweite und Klickzahlen. "Zu bedenken ist außerdem, dass die Journalisten in Deutschland von ihrer Milieu-Zugehörigkeit her kein repräsentatives Abbild der Bevölkerung sind, sondern das liberal-intellektuelle Milieu stark überrepräsentiert ist", schreibt Krüger, der zu diesem Thema bereits 2016 das Buch "Mainstream" vorgelegt hatte (Rezension hier).
Das Buch leuchtet den Begriff "Lügenpresse" von mehreren Seiten aus und vermittelt so ein umfassendes Bild. Auch wenn nicht alle Beiträge gleichermaßen überzeugen – es sind einige von wortführenden Journalisten dabei, die nicht zu den stärksten in dem Werk zählen –, ist der Band unterm Strich interessant, facettenreich und ergiebig.
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