Brillanter Denker und schwieriger Charakter
Seit der Finanzkrise 2008 häufen sich die Bemühungen, aus Karl Marx (1818-1883) einen Propheten der jüngsten ökonomischen Entwicklungen zu machen. Das versucht auch die vorliegende Marx-Biografie von Jürgen Neffe, Journalist und Verfasser erfolgreicher Darwin- und Einstein-Vitae. Gerade die gegenwärtige Entwicklung des Kapitalismus, die durch massive Globalisierung und eine Dominanz der Finanzmärkte gekennzeichnet ist, lasse sich mit Marx erklären, schreibt Neffe. Ob der Untergang bevorsteht, da ist sich der Autor nicht ganz sicher.
Diese aktualisierende Sicht soll den Leser wohl animieren, wirkt aber denn doch etwas gekünstelt. Marx beschrieb zwar sicherlich richtig die wiederkehrenden Krisen des Kapitalismus. Seine Untergangsprophezeiung ist freilich nicht eingetreten. Und der real existierende Sozialismus, den diverse Staaten ausprobierten, hat nicht die menschlichen Züge entwickelt, auf die der Philosoph und Ökonom hoffte. Dessen ist sich auch Neffe bewusst.
Ausbeutung und Entfremdung
Der Autor schildert Marx als visionären Denker, dessen Theorie dem Humanismus zuneigte. Dazu kontrastiert er Marx' Frühschriften aus den 1840er Jahren mit dessen Hauptwerk "Das Kapital" (1867). Laut den Frühschriften, schreibt Neffe, resultiere die "Entfremdung des Arbeiters von seiner menschlichen Natur" unter anderem aus der Arbeitsweise, etwa ruinösen Arbeitsbedingungen. Im "Kapital" hingegen entfremde die Ausbeutung den Arbeiter, da der Lohn nicht dem Wert seiner Arbeit entspreche. Doch so einfach lässt sich Marx nicht vom Sowjetmarxismus reinwaschen. Die humanistischen Gedanken des Frühwerks kehren im Hauptwerk gerade nicht wieder, so dass sich letzteres als ideologische Grundlage einer totalitären Zentralverwaltungswirtschaft durchaus verwenden lässt.
Die Biografie beeindruckt vor allem dadurch, dass sie das "Kapital" gelungen darstellt. Neffes Befund, dass es sich hier auch um ein literarisches Meisterwerk handle, muss man allerdings nicht teilen. Zumal sich der Autor auf Marx' Geschichtsphilosophie stützt, die als ein Denkprodukt des 19. Jahrhunderts heute mehr als fragwürdig erscheint. Ökonomische Krisen kehren immer wieder. Doch deswegen muss auf die Herrschaft der Bourgeoisie noch lange nicht die des Proletariats folgen.
Der Verfasser des "Kapitals" konnte nicht mit Geld umgehen
Marx war fraglos ein brillanter Denker, hatte aber auch gravierende persönliche Schwächen, worauf das Buch ausführlich eingeht. Er spielte politische Mitstreiter geschickt aus und beurteilte deren Wirken häufig sehr ungerecht. Im Privatleben betrieb der egozentrische Patriarch eine katastrophale Haushaltsführung, die seine Familie zeitweise in brutale Armut stürzte. Als Verfechter "geordneter Familienverhältnisse" kritisierte seinen Freund und Unterstützer Friedrich Engels ob dessen eheloser Beziehung mit einer "nicht standesgemäßen" Arbeiterin. Marx, mit einer Adligen verheiratet, schwängerte sein Hausmädchen, das trotzdem blieb, während sie ihren unehelichen Sohn weggaben.
Die Biografie glänzt mit dramatischen Anekdoten aus dem Leben des Philosophen und Ökonomen, die die theoretischen Passagen gut verteilt unterbrechen und das Buch durchaus zu einem Lesevergnügen machen. Doch bei seinem primären Anliegen, Marx als humanistischen und visionären Denker darzustellen, den die Sowjets nur missbrauchten, macht es sich Neffe zu einfach.
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