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»Mathe ohne Zahlen«: Über das Rechnen hinaus

Schulmathematik beschränkt sich meist auf Rechnen. Milo Beckman zeigt, dass es auch anders geht: mit einem verständlichen Werk, das verschiedenste Facetten des Fachs beleuchtet. Eine Rezension.
Geometrische Flächen

Als vor einem Jahr die englischsprachige Originalfassung des Taschenbuchs erschien, genügte dem amerikanischen Dutton-Verlag noch der schlichte Titel »Math without numbers« – ohne jeglichen Zusatz. Ob der deutsche Verlag befürchtete, dass der Titel »Mathe ohne Zahlen« nicht genügend Käufer findet?

Der Untertitel »Was Lehrer für sich behalten« passt genauso wenig wie der ebenfalls auf der Titelseite aufgedruckte Hinweis »Nie mehr Angst vor Algebra, Geometrie & Co«. Denn zum einen kann ich mir nicht vorstellen, dass Lehrerinnen und Lehrer, die sich mit den Themen aus Beckmans Buch beschäftigt haben, die Ideen für sich behalten (was für ein Bild von Schule hat der verantwortliche Verlagsredakteur?), zum anderen weiß ich nicht, wie Algebra- und Geometriekenntnisse durch das vorliegende Buch verbessert werden, denn die angesprochenen Themen haben absolut nichts mit Schulgeometrie und -algebra zu tun.

Schulmathematik langweilte Milo Beckman

Autor des Werks ist der 1995 geborene Milo Beckman, der sich schon früh für mathematische Themen interessierte. Im Alter von acht Jahren nahm er am Mathematikunterricht einer Highschool teil, mit 13 Jahren leitete er das New Yorker Matheteam, das regelmäßig an Mathewettbewerben teilnimmt. Mit 15 ging er nach Harvard und absolvierte das Grundstudium. Danach war er als Mathematiklehrer in verschiedenen Ländern tätig, schrieb zahlreiche populäre Artikel für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften, verfasste unter anderem Kreuzworträtsel für die »New York Times« und absolvierte an der Columbia University erfolgreich ein Studium über philosophische Grundlagen der Physik.

Wenn man (aus einem Interview mit ihm) erfährt, dass Edwin A. Abbotts 1884 erschienener Roman »Flatland« und Hans Magnus Enzensbergers »Zahlenteufel« (1997) seine Lieblingslektüren in Kinderjahren waren, versteht man Beckmans außergewöhnlichen Zugang zur Mathematik: Schulalgebra und -geometrie langweilten ihn, Schulanalysis war vermutlich eher uninteressant, da sie zu kalküllastig ist.

Und so möchte er die Leser und Leserinnen seines Buchs teilhaben lassen an (wie er überzeugt ist) spannenderen Themen. Gegenüber vom Inhaltsverzeichnis findet man die Zeichnung eines Baums, dessen Hauptäste die Aufschriften Topologie, Analysis und Algebra tragen, darüber schwebt das Wort Modellierung. In der unteren Hälfte des Stamms ist ein Schild mit der Beschriftung Schulmathematik angebracht – was auch immer das an dieser Stelle zu bedeuten hat.

Beckman beginnt das Topologie-Kapitel mit »Formen«, erläutert anhand etlicher Grafiken – das Buch lebt von den zahlreichen genialen, manchmal cartoonartigen Kritzelbildern des New Yorker Künstlers M. Erazo –, dass Kreise, Dreiecke und Vierecke topologisch gleich sind. Zudem beweist er (ja, formal so richtig mit QED zum Abschluss), dass es unendlich viele Formen gibt, da man sie durch Zusatzlinien beliebig ergänzen kann.

Im nächsten Abschnitt beschäftigt sich der Autor mit Mannigfaltigkeiten, die er mit folgenden Worten charakterisiert: »Eine Form wird Mannigfaltigkeit genannt, wenn sie keine besonderen Punkte hat: keine Endpunkte, keine Schnittpunkte, keine Kantenpunkte, keine Verzweigungspunkte. Sie muss überall gleich sein.« Aus dieser umgangssprachlichen Beschreibung wird schnell klar, dass nur der Kreis und die unendliche Linie als eindimensionale Mannigfaltigkeit in Frage kommen.

Als zweidimensionale Mannigfaltigkeiten findet man analog dazu die Sphäre und die unendliche Ebene. Als weitere Mannigfaltigkeit stellt Beckman dann den Torus vor, eine Art Donut, dessen charakteristisches Merkmal das Loch in der Mitte ist. Diese Form lässt sich dann weiter zu einer unendlichen Familie von Tori, mit weiteren Löchern, erweitern. Während sich das noch gut darstellen lässt, fehlt die Anschauung bei so genannten reellen projektiven Ebenen. Gleichwohl beschreibt Beckman, wie man eine solche Form »herstellen« könnte, nämlich durch Zusammennähen einer Scheibe mit einem Möbiusband.

Leider vermeidet es der Autor in diesem Zusammenhang, den Namen von Möbius (oder Listing) zu erwähnen – ebenso wie im Folgenden Poincaré und Perelman; vielmehr beschränkt er sich auf die eher saloppe Aussage: »Die dritte Dimension (…) ist mittlerweile ziemlich gut erforscht, auch wenn es einhundert Jahre und ein Preisgeld von einer Million Dollar brauchte, um dorthin zu gelangen.« Auch die kleinsche Flasche spricht er an, ohne zu versuchen, deren Hauptmerkmal zu skizzieren. Schade, diese Rück- und Ausblicke auf die historische Entwicklung der Theorie hätten gut in das Kapitel gepasst.

Anschließend beschäftigt sich der Autor mit einem verallgemeinerten Begriff der Dimension, angewandt auf Alltagssituationen (Geschmacksrichtungen sind fünfdimensional, Farben dreidimensional und so weiter), und beendet seine Ausführungen mit der vierdimensionalen Raumzeit, deren topologische Form bislang ungeklärt ist.

Im zweiten Kapitel erzählt Beckman im durchgängig beibehaltenen Plauderton Geschichten zu Unendlichkeiten und dem Kontinuum: Im Prinzip beruft er sich auf Cantors Arbeiten zu Abzählbarkeit und Überabzählbarkeit, wobei Cantor ebenso wenig namentlich erwähnt wird wie Hilbert, dessen berühmtes Hotel ebenfalls in dieser Geschichte vorkommt.

Offensichtlich wollte Beckman keinen Mathematiker namentlich erwähnen, denn auch in den restlichen Kapiteln werden sie verschwiegen. Da werden die Peano-Axiome ohne Peano zitiert, mit der »Principia Mathematica« ist im Buch nur von den Adligen die Rede, und dann gibt es noch »den holländischen Topologen«, der aus dem Vorstand der Mathematischen Annalen gedrängt wurde und der beweisen konnte, warum man eine Kugel mit Haaren nicht kämmen kann.

» Mathe ohne Zahlen« fasst eine Fülle an mathematischen Themen: Im Rahmen der Analysis folgt noch ein Abschnitt zu Abbildungen, der bis zu Vektorfeldern und Kartenprojektionen hinführt. Im dritten Kapitel über Algebra wird anschaulich erklärt, was isomorphe Strukturen sind, Mengen und Graphen kommen vor, und mit Hilfe eines Baumdiagramms analysiert Beckman das Spiel Tic-Tac-Toe – und stellt dann noch Symmetriegruppen und Tapetengruppen vor. Am Ende steht ein Abschnitt mit dem Titel Schlussfolgerung; es geht um logische Schlussweisen und die Frage, ob alle mathematischen Sätze beweisbar sind. Auf dieses spannende Thema geht der Autor in einem 34-seitigen Dialog (Frage-Antwort-Spiel) ein. Das letzte Kapitel beschäftigt sich mit »Modellen, Automaten, Naturwissenschaft«, umfasst ebenfalls vieles: Kettenkurve und Normalverteilung, Gravitationsgesetz und »Game of life« (ohne Conway zu nennen), und endet mit dem Standardmodell zur Entstehung des Universums.

Ist das nicht alles zu viel des Guten? Und gleichzeitig zu wenig? Das leicht zu lesende Buch bietet eine Fülle von Anregungen und ist sicherlich auch ein schönes Geschenk für jemanden, der nicht abgeneigt ist, mehr über Mathematik zu erfahren. Leider fehlen aber letztlich konkrete Hinweise, wie und wo man mehr über die vielen angedeuteten Themen erfahren kann.

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