»Mathematik der Pandemie«: Epidemiologie, sauber erklärt
An Zahlen zur Coronapandemie herrscht wahrlich kein Mangel. Das Mediengetöse darüber, wie sie zu interpretieren seien und welche Schlüsse man aus ihnen zu ziehen habe, nahm bisweilen ohrenbetäubende Ausmaße an. Manch ein Entscheidungsträger verhedderte sich hoffnungslos zwischen Begriffen wie R-Wert, 7-Tage-Inzidenz, Verdoppelungsrate und Hospitalisierungsquote.
Und da kommen drei Mathematiker und erklären, was ihr Fach zur Sache zu sagen hat? Einigermaßen vollständig, für Laien verständlich, auf 120 Seiten einschließlich Inhalts-, Literatur- und Sachverzeichnis? Jawohl. Die Grundideen sind nämlich nicht allzu viele und durchaus einleuchtend, vor allem wenn man sie in der Klarheit formuliert, die dieses Buch auszeichnet.
Wie modelliert man eine Pandemie?
Es geht um mathematische Modellierung, und das heißt auch: ein sehr komplexes Geschehen mit relativ wenigen Formeln darzustellen, was unweigerlich auf das Weglassen zahlreicher Details hinausläuft. Natürlich muss man aufpassen, dass keine wesentlichen Details darunter sind.
Das einfachste Modell für Epidemien aller Art abstrahiert von so ziemlich allen persönlichen Eigenschaften der betroffenen Menschen, einschließlich dem Ort, an dem sie leben. Vielmehr werden sie in drei Schubladen eingeteilt: gesund, aber anfällig für eine Ansteckung (susceptible), krank (infected) und ausgeschieden (removed), was sowohl genesen und immun als auch tot heißen kann. In einer Verfeinerung des Modells gibt es eine vierte Schublade für diejenigen, die der Infektion ausgesetzt (exposed) sind, aber den Erreger noch nicht selbst verbreiten. Nach den Anfangsbuchstaben der englischen Bezeichnungen heißen die Modelle SIR und SEIR. Innerhalb des Modells kommt es nur auf die Anzahlen der Menschen in den jeweiligen Schubladen an sowie die Geschwindigkeit – genauer: die Rate –, mit der sie durch Erkrankung, Genesung oder Tod von der einen in die andere Schublade wechseln. Die Gleichungen, die dabei herauskommen, sind von derselben Art wie diejenigen, die chemische Reaktionen in einem gut gerührten Gefäß beschreiben; und damit kennen sich Mathematiker aus.
So grob das Modell anmuten mag, es beschreibt wesentliche Merkmale einer Epidemie und eignet sich sogar für Prognosen über den Sinn gewisser Maßnahmen. Dabei entnimmt man dem Modell, dass die Anzahl der Infizierten exponentiell ansteigt, solange die Krankheit nur einen kleinen Teil der Bevölkerung erfasst. In der Frühphase der Covid-19-Pandemie verdoppelte sie sich alle 3,3 Tage, wie der Durchschnittswert aus verschiedenen Ländern zeigt. Da wir einen derart rasanten Anstieg aus der alltäglichen Erfahrung nicht gewohnt sind, neigen wir dazu, das Problem massiv zu unterschätzen. Die absoluten Zahlen sind ja noch klein. Aber das ändert sich eben wesentlich schneller, als man denkt.
Wie jedes Modell enthalten auch SIR und SEIR Zahlen, die zum Beispiel gewisse Eigenschaften des Erregers beschreiben und die man durch Beobachtung der Realität an die jeweils konkrete Epidemie anpassen muss. Unter solchen Parametern ist die Übertragungsrate, die angibt, wie viele Anfällige ein Infizierter im Durchschnitt pro Zeiteinheit ansteckt. Sie ist proportional dem oft diskutierten R-Wert. Eine Kontaktbeschränkung ist eine Maßnahme, diesen Parameter zu senken, und das Modell hilft, deren Einfluss auf das weitere Infektionsgeschehen vorherzusagen. Das Ergebnis: Bereits eine Kontaktnachverfolgung, die also nur die möglicherweise Infizierten effektiv aus dem Verkehr zieht, kann Wunder wirken – solange die Fallzahlen klein sind und damit die Kapazität der Gesundheitsämter nicht überfordern.
Eine (wirksame) Impfung befördert den betreffenden Menschen von Schublade S nach R, wodurch sich das ganze Geschehen auf einer kleiner gewordenen Menge Anfälliger abspielt. Verfeinerungen des Modells unterteilen jede Schublade nach Geschlecht und vor allem nach Alter, womit der Altersabhängigkeit des Infektionsrisikos Rechnung getragen wird.
Will man darüber hinaus noch berücksichtigen, dass die Menschen in ihrem Verhalten sehr verschieden sind und dass insbesondere die reise- und kontaktfreudigen »Superspreader« um Größenordnungen mehr Leute anstecken als der Durchschnittsmensch, muss man von den kontinuierlichen Modellen wie SIR und SEIR zu stochastischen übergehen. Man denkt sich gewissermaßen eine Beispielbevölkerung und würfelt aus, wer wann mit wem Kontakt hat. Das gibt bei jedem Lauf des Programms eine etwas andere Beispielrechnung; in ihrer Gesamtheit liefern deren Ergebnisse jedoch ein realistisches Bild.
Nur mit den Langfristprognosen sieht es schlecht aus, und die Autoren scheuen sich nicht, das offen zuzugeben. Die Gründe sind zweierlei: Erstens ist das Infektionsgeschehen so chaotisch wie das Wetter. Eine Mutation in dem Virus kann die Parameter drastisch verändern. Zweitens hängen wesentliche Eigenschaften des Modells vom Verhalten der Menschen ab. Und wenn eine düstere Prognose die Leute von der Notwendigkeit einschneidender Maßnahmen überzeugt, die Personen sich daran halten und dadurch die Vorhersage widerlegen: Dann ist deren Scheitern der größte Erfolg, den ein Modellierer sich vorstellen kann.
Schreiben Sie uns!
Beitrag schreiben