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»Mathematik verstehen mit Fischertechnik«: Rechenmaschinen zum Eigenbau

Thomas Püttmann legt ein Buch mit detaillierten Anleitungen vor und zeigt eindrücklich, dass man mit Fischertechnik auch mathematische Maschinen bauen kann.
Eine Lissajous-Figur in Rot auf schwarzem Hintergrund

Selbst wer sich, wie der Rezensent, noch nicht ernsthaft mit den Baukästen der Serie Fischertechnik befasst hat, erkennt mit Hilfe dieses Buchs, welche umfangreichen Spiel- und Bastelmöglichkeiten sie bieten – auch für Wissenschaftler.

Alle Teile des Sortiments sind präzise aufeinander abgestimmt, nicht nur die elementaren Bausteine, die man – Zapfen in Schlitz – zu rechtwinkligen Konstruktionen aller Art zusammenstecken kann. Da gibt es Zahnräder verschiedener Größe, die ineinanderpassen, Ketten mit beliebig wählbarer Länge, die über die Zahnräder laufen, und Achsen für Räder mit und ohne Zähne. Außerdem werden allerlei Kleinteile geboten mit Namen wie Schnecke, Zangenmutter, Rastritzel, Riegelscheibe oder Klemmbuchse, die unter anderem dazu dienen, andere Teile am Platz oder auf Abstand zu halten. Die Designer des Systems hatten bei der Zusammenstellung der Teile den Bau von Maschinen im Sinn, von Kränen über verschiedene Fahrzeuge bis hin zu allerlei elektronisch gesteuertem Gerät.

Thomas Püttmann, außerplanmäßiger Professor für Mathematik an der Ruhr-Universität Bochum, arbeitet seit Jahren in der Lehre mit diesen Baukästen und hat seine Materialien zur Technikgeschichte und zur Programmierung bereits 2015 beziehungsweise 2020 in zwei Büchern niedergelegt. In seinem neuen Werk lehrt er uns, dass man mit Fischertechnik auch mathematische Maschinen bauen kann. Zum Beispiel ein Zählwerk, das den Zehnerübertrag beherrscht und deswegen zum Addieren nutzbar ist. Oder den »Rechenfrosch«: ein Parallelogrammgestänge mit zwei Füßen, die auf einer horizontalen Stange gleiten. Die Mechanik setzt die Stellung der Füße in die eines Zeigers um, der auf einen Tabelleneintrag weist; und wenn die Tabelle das kleine Einmaleins enthält, ist der Frosch eine Multipliziermaschine.

Ein kleines Bauteil, auf eine schräg stehende Platte gesteckt, kann nach links oder rechts gekippt werden und dient damit als Binärstelle: Rechts entspricht der Null, links der Eins. Mehrere solcher Wippen, treppenförmig auf der Platte angeordnet, ergeben eine mehrstellige Binärzahl. Und jede Kugel, die man oben in dieses Zählwerk einwirft, schaltet das Zählwerk eins weiter. Mit einem geeigneten Vorbau wird das Gerät zum Binäraddierer und realisiert damit auf mechanischem Weg das, was jeder Computer tief im Inneren mit seinen elektronischen Bauteilen tut.

Eine Wippe als Variable in einem Gleichungssystem

Eine etwas raffiniertere Wippe dient als Variable in einem linearen Gleichungssystem mit zwei Unbekannten. Die Gleichungen selbst werden durch Seile realisiert. Wenn beide Seile stramm sind, kann man die Lösung des Gleichungssystems an der Stellung der Wippen ablesen. Hier und an anderen Stellen greift Püttmann auf die Technik der mechanischen Analogrechner zurück, die vor allem in Großbritannien ab der Mitte des 19. Jahrhunderts blühte, bis ihr ab den 1940er Jahren die Digitalrechner den Garaus machten. Interessanterweise ist Francis Bashforth (1819–1912), der Erfinder des Seilcomputers, derselbe, dessen Name in dem Adams-Bashforth-Verfahren fortlebt, einer Standardmethode zur Lösung gewöhnlicher Differenzialgleichungen mit dem (digitalen) Computer.

Ein Stift wandert, von Seilen gezogen, einen Balken entlang, der seinerseits quer zu seiner eigenen Ausrichtung über ein Blatt Papier fährt: Das ist das Grundprinzip des Plotters, das auch mit Fischertechnik zu realisieren ist. Je nachdem, wie man das Seil für den Balken (x-Koordinate) und für den Stift (y-Koordinate) ansteuert, zeichnet der »xy-Schreiber«, wie Püttmann ihn nennt, allerlei Funktionsgraphen, Ellipsen oder auch Lissajous-Kurven (Überlagerungen verschiedener Sinusschwingungen).

Ein weiterer Anbau macht aus dem xy-Schreiber einen »Isografen«. Dieser mechanische Analogrechner, dessen Vorbild aus dem Jahr 1937 stammt, kann sogar quadratische Gleichungen und solche höherer Ordnung lösen. Um seine Funktion zu erklären, muss Püttmann einen Exkurs in die komplexe Funktionentheorie unternehmen und damit weit über das allgemeine Niveau des Buches hinausgehen. Die meisten Apparate sind allerdings für jeden verständlich, der sich mit natürlichen Zahlen, Teilbarkeit, Zehner- (oder eben Zweier-)Übertrag und ähnlichen Dingen auskennt.

Püttmann gibt jedem seiner 28 Projekte nicht nur eine detaillierte Bauanleitung und ausführliche theoretische Erläuterungen mit, sondern vermerkt auch die Anknüpfungspunkte zum Lehrplan für diejenigen, die das Material im Unterricht verwenden wollen. Die zahlreichen Fotos, die jeden Aufbauschritt dokumentieren, legen Zeugnis davon ab, dass Püttmann alle diese Geräte nicht nur gebaut, sondern auch dem Härtetest des Schulalltags unterzogen hat.

Damit hat er ein Buch vorgelegt, das für Lehrzwecke bestens geeignet ist und auch dem Rezensenten als Jugendlichem viel Freude bereitet hätte.

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