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Buchkritik zu »Medizinethik und Kultur«

Der vorliegende Band fasst die Referate eines Projekts namens "Beschränkungen medizinischen Handelns – kulturelle Unterschiede" zusammen, das 1997 vom Philosophischen Institut der Universität Münster und vom Fachbereich für Ethik, Philosophie und Geschichte der Medizin der Katholischen Universität Nijmegen (Niederlande) gemeinsam veranstaltet wurde. Themen waren vor allem die Therapiebegrenzung, die aktive Sterbehilfe, die Schmerztherapie und die Palliativmedizin. Nicht erst seit der Verabschiedung des niederländischen Gesetzes zur aktiven Sterbehilfe ist bekannt, dass sowohl die medizinische Praxis als auch die juristische und ethische Würdigung in Deutschland und in den Niederlanden erheblich auseinander gehen. Euthanasie ist in den Niederlanden definiert als "absichtliches lebensbeendendes Handeln durch eine andere als die betroffene Person, auf deren ausdrückliches Verlangen hin". Dabei meint "Absicht" den direkten Vorsatz, und "Handeln" ist ebenfalls im engen Sinne zu verstehen; denn die hoch dosierte Schmerztherapie, die als Nebenfolge den vorzeitigen Tod in Kauf nimmt, und die Beendigung der Therapie gelten nicht als Euthanasie, sondern als "normale medizinische Praxis". Dagegen ist Beihilfe zum Suizid in den Niederlanden anders als in Deutschland strafbar. Der Freiburger Jurist Hans-Georg Koch referiert die deutschen Abgrenzungen zwischen der strafbaren aktiven und der durch Bundesgerichtshofsurteil für zulässig erklärten "indirekten" Sterbehilfe, das ist die Schlaf- oder Schmerzmittelgabe, bei welcher der Tod des Patienten nicht direkt beabsichtigt, aber in Kauf genommen wird. Der Ethiker Bert Gordijn aus Nijmegen ordnet den Stand der Diskussion in beiden Ländern in ein dreistufiges, allgemeines Schema für die gesellschaftliche Diskussion schwieriger Themen ein: - Konfrontation mit Ausgang in Akzeptanz oder Ablehnung, - Integration mit Entwicklung von Regelungen und Strukturen und - Auseinandersetzung mit den resultierenden Auswirkungen. Er sieht die Niederlande auf der zweiten Stufe, Deutschland noch auf der ersten. Im Gesamteindruck bestätigt das Buch dieses Bild. Es ist eindrucksvoll, mit welcher besonnenen Nüchternheit und Ernsthaftigkeit sich die Niederländer kritisch mit den Konsequenzen ihrer Gesetzgebung und Handlungspraxis auseinander setzen. Verglichen damit müssen wir Deutschen erst noch soziokulturell erwachsen werden. Die Niederlande umgehen den Konflikt zwischen grundsätzlicher Strafbarkeit und faktischer Zulassung der aktiven Sterbehilfe mit einem landestypischen juristischen Instrument, dem "Gedogen". Die Bedingungen sind: unerträgliches und aussichtsloses Leiden, keine Alternative zur Linderung, Aufklärung des Patienten, Dauerhaftigkeit und Vertretbarkeit des Verlangens, Konsultation eines anderen Arztes, Ausführung durch einen Arzt und Einhaltung des Meldeverfahrens. Inzwischen ist die Zusicherung der Straffreiheit etablierte Praxis. Dagegen werde in Deutschland unter "Euthanasie" etwas völlig anderes verstanden: Vor und im Nationalsozialismus wurde die Freigabe der individuellen Tötung schwerstgradig Behinderter und Kranker einerseits mit der Leidens-Erlösung, andererseits mit einem simplifizierten Darwinismus begründet und zu der Tötung von insgesamt über 100000 Menschen entwickelt. Angesichts dieser Unterschiede sei das Dammbruchs-Argument – die Zulassung einer Euthanasie-Praxis niederländischer Prägung müsse verhindert werden, weil sie der erste Schritt zu einer Massentötung Behinderter sei – unangemessen. Zur medizinischen Praxis wissen der Philosoph Evert van Leeuwen und der Arzt Gerrit Kimsma aus Amsterdam aus einer anonymen Befragung niederländischer Ärzte von 1995 Erstaunliches zu berichten. Nach ihren Untersuchungen haben in einem Jahr 9700 Patienten die Euthanasie verlangt; in 3200 Fällen wurde sie tatsächlich ausgeführt. In 900 Fällen wurde aktive Sterbehilfe ohne Einwilligung des Patienten praktiziert, in 400 Fällen Beihilfe zum Suizid. Dazu kommen 25000 Fälle von indirekter Sterbehilfe und 27000 Fälle von Behandlungsabbruch, was sich auf 42,6 Prozent aller Todesfälle überhaupt addiert. Dabei sind allerdings alle Gaben von Beruhigungsmitteln in der Sterbephase mitgezählt, die man bei flüchtiger Betrachtung gar nicht als problematisch ansehen würde. Van Leeuwen und Kimsma halten das in ihrem Lande vorgeschriebene Meldeverfahren für nicht unproblematisch. Dass die Praxis der Sterbehilfe zumindest zahlenmäßig bekannt und insoweit öffentlich überprüfbar sein sollte, ist unbestritten. Um die Meldebereitschaft zu erhöhen, hat der Staat weit reichende Straffreiheitszusagen abgegeben – was nicht verhinderte, dass zum Beispiel ein Arzt, der einem depressiven, aber nicht sterbenskranken Patienten Sterbehilfe leistete, vom staatlichen Obersten Gerichtshof freigesprochen, vom Berufsgericht seiner Standesorganisation jedoch verurteilt wurde. Fälle wie dieser sind nicht dazu angetan, die Meldebereitschaft zu erhöhen. Dabei muss die Befürchtung des Arztes, er würde seine Handlung nicht vor offiziellen Gremien rechtfertigen können, nicht unbedingt im Vordergrund stehen. Die vermutlich erhebliche Dunkelziffer ist auch damit zu erklären, dass der Arzt das Vertrauensverhältnis zum Patienten und die Intimsphäre seiner Familie nicht stören will. Dem entsprechen die Zahlen aus der anonymen Befragung, nach denen fast drei Viertel aller Fälle von eingewilligter aktiver Sterbehilfe im hausärztlichen Bereich praktiziert wurden. Im Gegensatz zu einer ursprünglichen Absicht des Schutzes individueller Lebensgestaltung könnten Zählverfahren und distanzierende Kontrollmaßnahmen "leicht das Entgegengesetzte von dem erreichen, was eigentlich bewirkt werden soll". Die vorgesehene Kontrolle durch fünf regionale Gremien, die mit je einem Arzt, Jurist, Ethiker besetzt sein sollen, müsse wegen des immensen Arbeitsvolumens zwangsläufig ineffizient werden. In Deutschland ist wegen der restriktiveren und unklareren Gesetzeslage von einer weitaus höheren Dunkelziffer indirekter ärztlicher Sterbehilfe-Handlungen auszugehen. Der Düsseldorfer Ethiker Dieter Birnbacher stellt das Leiden des Patienten in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen. Der Wunsch des Patienten zu sterben, weil er nicht länger unerträgliche Schmerzen erdulden will, sei legitim und könne eine aktive Sterbehilfe rechtfertigen. Da ein einwilligungsunfähiger Patient in gleichem Ausmaße leiden könne, plädiert Birnbacher auch hier für die Euthanasie, verweist allerdings auf die Schwierigkeiten der Beurteilung. Gegen das niederländische Verfahren der Duldung, das in seinen Augen die Sicherheit, Verbindlichkeit und Autorität des Rechts beeinträchtigt, plädiert er für eine strafrechtliche Ausnahmeregelung unter der Bedingung eines unerträglichen Leidenszustandes entsprechend dem "Alternativentwurf eines Gesetzes über Sterbehilfe" (Thieme, Stuttgart 1986). Von einem Ausbau der Palliativmedizin erwartet er ein erhebliches Zurückgehen der Sterbehilfe-Wünsche. Bemerkenswerterweise kommt das einzige wesentliche Argument gegen die Euthanasie von einem katholischen Theologen, Eberhard Schockenhoff aus Freiburg. Im Annehmen des je eigenen Sterbens liege auch eine wichtige Entwicklungsmöglichkeit; allerdings könne ein solcher Gedanke wohl nicht als Anforderung an jeden Menschen gestellt werden. "Die künstliche Verlängerung des Lebens um jeden Preis und die bewusste Beschleunigung des Todes entspringen in vielfacher Hinsicht – sowohl aus der Perspektive des Arztes als auch aus der des Patienten – gegensätzlichen Absichten, aber sie stimmen darin überein, dass sie der Annahme des eigenen Todes ausweichen." Und: "Im Ertragen der gemeinsamen Ohnmacht zeigt sich eine tiefere menschliche Solidarität und eine entschiedenere Achtung vor der Würde des sterbenden Menschen als in dem Ausweg einer absichtlichen Herbeiführung des Todes." Weitere Fragen bleiben unbeantwortet: Gibt die Gewissheit einer möglichen Euthanasie dem Sterbenden vielleicht die Gelassenheit, sich dem Fortgang seines Sterbens zu stellen? Sollten die Kirchen aus Respekt vor den anders Denkenden in unserer pluralen Gesellschaft nicht doch eine zulassende (und kontrollierende) gesetzliche Regelung fördern? Das so inhaltsreiche Buch regt zum gründlichen Nachdenken an. Mich persönlich erschreckt die Vorstellung, als Arzt eine das Leben eines Menschen beendende Infusion anzulegen, zutiefst. Sicherlich ist es aus diesem Zurückschrecken zu erklären, dass die Ärzteschaft insgesamt der Sterbehilfe weithin restriktiver gegenübersteht als die öffentliche Meinung, die der Autonomie des Einzelnen zunehmend größeres Gewicht beimisst. Wesentlich ist mir vor allem: In der Angst vor dem Versagen unserer Therapie und dem Sterben unserer Patienten sollten wir Ärzte nicht die Aufmerksamkeit für deren ganz persönliche Bedürfnisse versäumen.
  • Quellen
Spektrum der Wissenschaft 10/2001

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