Faktenreicher Lebensrückblick
Als der Biologe Josef Reichholf im Jahr 1970 eine Expedition in die brasilianischen Tropen unternahm, riet man ihm, einen großen Bogen um Lanzenottern und Klapperschlangen zu machen. Beide Schlangenarten sind für Menschen hochgiftig. Reichholfs Interesse an den Tieren war geweckt, und er beschäftigte sich mit ihnen, wobei er verblüffende Erkenntnisse gewann. Warum, fragte er sich beispielsweise, schlägt die Lanzenotter unvermittelt zu, wenn sie sich bedroht fühlt, wohingegen die Klapperschlange, die mit ihr ziemlich eng verwandt ist, bei Annäherung warnende Rasselgeräusche erzeugt?
Reichholfs Antwort: Weil das Rasseln ursprünglich ein Warnsignal zum Abwehren von Pferden war. Denn in Nordamerika, wo sich die frühesten Vertreter der Pferdefamilie entwickelten und wo sich ihre Evolution großteils abspielte, kam es ständig vor, dass die Vierbeiner in den Lebensraum der Klapperschlangen eindrangen und diese zertrampelten, woran sich die Schlangen mit Gegenmaßnahmen anpassten. Dies erklärt auch, warum Antikörper aus Pferdeblut gegen Klapperschlangengift wirken; ein Umstand, den man sich bei der medizinischen Behandlung von Gebissenen zu Nutze macht.
Solche spannenden Einsichten vermittelt das vorliegende Buch zuhauf. Reichholf hat in seiner fünf Jahrzehnte währenden Laufbahn als Wissenschaftler etliche Forschungsreisen unternommen, die ihn in fast alle Regionen der Erde führten. Welche Erfahrungen er dabei machte und welche Erkenntnisse er gewann, beschreibt er in dem Band detailliert und fesselnd.
Fliegen los dank Streifenfell
Unter anderem geht er auf das Phänomen ein, dass Zebras ein schwarz-weiß gestreiftes Fell entwickelt haben. Dieses schützt sie vor Blut saugenden Tsetsefliegen. Denn die Facettenaugen der Insekten können nur dunkle Silhouetten erfassen, die sich deutlich gegen einen hellen Hintergrund abheben. Doch warum, fragt der Autor, besitzen dann nicht auch andere Säugetiere der ostafrikanischen Savanne ein solches Streifenmuster, und warum ist es ebenso wenig beim Homo sapiens und seinen Vorfahren zu finden?
Die Antwort darauf ist komplex. Zebras und Menschen besitzen im Gegensatz zu anderen Säugern keine Immunität gegenüber den einzelligen Parasiten (Trypanosomen), die von den Fliegen übertragen werden. Laut Reichholf liegt das daran, dass Menschen und Pferde (zu denen Zebras gehören) im Vergleich mit anderen Savannentieren wenig schlafen. Ihr Immunsystem werde daher mit Krankheitserregern wie Trypanosomen nicht so gut fertig wie das anderer Arten.
Die evolutionäre Anpassung der Zebras daran – das gestreifte Fell – war dem Menschen verwehrt. Denn er büßte den Großteil seiner Behaarung schon früh ein. Dafür passte er sich auf andere Weise an, indem er zum saisonalen Nomaden wurde. Dies erlaubte ihm, den in der Regenzeit gebärenden und oft in feuchten Wäldern lebenden Tsetsefliegen einigermaßen auszuweichen. Reichholfs Überlegungen, die auf intensiven Feldforschungen in Ostafrika beruhen, münden in eine erstaunliche These: Die Evolution der menschlichen Spezies wurde stark von der Konfrontation mit den Fliegen geprägt.
Der mit Flusswasser putzt
Auf einer anderen Expedition im zentralamazonischen Regenwald benutzte Reichholf regelmäßig Flusswasser, um sich die Zähne zu putzen – und stellte schon bald Gebissdefekte fest. Der Grund: Das kristallklare Nass enthielt so gut wie kein Kalzium und löste dieses aus den Zähnen heraus. Den Biologen brachte das zu der Erkenntnis, dass fast sämtliche Gewässer Südamerikas extrem arm an Mineral- und Nährstoffen sind, ebenso die Böden dort. Denn außer in den Anden gibt es in Südamerika keine Vulkane, die solchen natürlichen Dünger liefern.
Die Amazonaswälder wachsen daher auf einer Humusschicht, die kaum mehr als einige Zentimeter dick ist; darunter nichts als Sand und Silikate. Warum bringen ausgerechnet diese Wälder eine ungeheure Vielfalt an Pflanzen und Tieren hervor? Weil gerade die prekären Lebensverhältnisse verhindern, dass sich einige wenige Arten auf Kosten vieler anderer durchsetzen, schreibt der Biologe. Jede Nische, sei sie noch so klein, müsse genutzt werden – und so entstünden etliche hoch spezialisierte Spezies. Allerdings seien die meisten dortigen Tierarten selten oder extrem selten, und auf 1000 Tonnen pflanzliche kämen allenfalls 180 Kilogramm tierische Biomasse; die Hälfte davon stellten Termiten und Ameisen.
"Mein Leben für die Natur" erweist sich als faktenorientiertes, exzellentes Sachbuch mit biografischen Anklängen. Es wartet mit einer überbordenden Fülle von Beobachtungen und Erkenntnissen auf und nimmt zudem irrtümliche Annahmen auseinander, von denen sich mancher Naturschützer nach wie vor leiten lässt – etwa die Vorstellung, ökologische Zusammenhänge seien statisch und von Gleichgewichten geprägt. Ein Personen- und Sachregister hätte dem Werk allerdings gutgetan.
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