Ein Leben für die Forschung
»Viren haben mich immer fasziniert«, schreibt der Biochemiker Ernst-Ludwig Winnacker im Vorwort seines neuen Buchs. Während des Lesens springt diese Begeisterung über. Mit »Mein Leben mit Viren« legt eine der wohl größten Forscherpersönlichkeiten der jüngeren Zeit ein Stück Wissenschaftsgeschichte über die faszinierende Welt der Krankheitserreger vor. Es sind zugleich berufliche Memoiren, weil persönliche Erinnerungen an zahlreiche Begegnungen mit Kolleginnen und Kollegen auf der internationalen Wissenschaftsbühne miteinfließen. Auch private Anekdoten, etwa seine missglückte Pockenimpfung als Kind, der Ausbruch des Marburg-Virus in der Firma des Vaters, die Arbeit als »Hilfslehrer« seiner Enkelinnen im Corona-Lockdown und das Fliegenfischen mit einem Nobelpreisträger sind unterhaltsame Bereicherungen.
Viren sind als Werkzeug nicht mehr wegzudenken
Der heute 80-Jährige ist Mitglied der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina, war unter anderem einige Jahre Präsident der Deutschen Forschungsgesellschaft (DFG) sowie Mitglied der Enquête‐Kommission des Deutschen Bundestags zu Chancen und Risiken der Gentechnologie. Über viele Jahrzehnte hat Winnacker die Forschungslandschaft in Deutschland entscheidend mitgeprägt und die Revolution der Biowissenschaften begleitet, die mit der Entzifferung des genetischen Codes in den 1960er Jahren ihren Anfang nahm.
Heute sind das Sequenzieren von DNA, das Aufspüren von Genen und ihren Proteinen gängige Laborverfahren. Die Gentherapie diverser Erbkrankheiten nimmt Fahrt auf. All das beschreibt Winnacker in seinem Buch und macht auf anschauliche Weise klar, dass Viren in dieser Entwicklung entscheidende Mitspieler waren und sind, denn sie dienten der Grundlagenforschung als Übungsobjekte und halfen, die Biologie der Zelle zu verstehen. Heute sind sie als gentechnisches Werkzeug nicht mehr wegzudenken.
Das Buch ist ein kurz gefasster Streifzug durch Virologie, Genetik und Immunologie, dabei aber wissenschaftlich detailliert – und mit Bezug zu aktueller Forschung. Es liefert Antworten auf wichtige Fragen wie: Sind Viren Lebewesen? Welche Rolle spielen sie in der Evolution? Wie entstehen Pandemien? Welche Hürden müssen bei der Impfstoffentwicklung genommen werden? Einige Viren stellt der Autor ausführlich vor, insbesondere jene, die schwere Krankheiten wie Pocken, Kinderlähmung, Grippe, Aids, Ebola oder auch Krebs verursachen.
Dabei referiert Winnacker über große Krankheitsausbrüche in der Menschheitsgeschichte, zeigt Wege zu Impfstoffen und medikamentösen Therapien auf. Er diskutiert nicht nur die Gefahren der Resistenzentwicklung von Viren, sondern nennt auch die Ursachen für angeborene Widerstandskräfte gegen Viren. Es wird klar: Ohne Viren wäre der Mensch nicht, was er ist.
Und natürlich widmet er sich eingehend Covid-19 und Sars-CoV-2 und diskutiert alle Fragen, die uns aktuell umtreiben. Dabei betont er, was mit der neuen Omikron-Mutante Realität zu werden droht: »Je langsamer geimpft wird, desto schneller werden sie [resistente Viren] sich bilden und ausbreiten.« Sein Resümee: »Wenn es eine Lehre aus der Sars-CoV-2-Pandemie gibt, dann sicher die, dass wir unseren Umgang mit Wildtieren überdenken müssen.«
Gegen Ende greift der Autor auch gesellschaftlich brisante Themen auf. Es ist eine Freude zu lesen, wie er Verschwörungsmythen seziert und entkräftet, wie er die Kritik an der Gentechnik sachlich überzeugend bremst, sich für ethische Leitlinien in der Forschung stark macht und die nicht zu unterschätzende Gefahr des weltweiten Bioterrorismus detailliert analysiert. Einziges Manko des Buchs: Es kommt, abgesehen von demselben Schmuckbild, das alle acht Kapitel aufmacht, leider ganz ohne Abbildungen aus. Auch das Sach- und Personenregister dürfte bei einem so inhaltsstarken Werk ausführlicher sein. Das trübt aber keinesfalls die Lesefreude.
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