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Klimawandel auf Spitzbergen

Kaum einen Ort trifft der Klimawandel härter als Spitzbergen. Die Journalistin Line Nagell Ylvisåker porträtiert die Veränderungen des Lebens in der Arktis und lässt Fachleute die Verbindungen zur Klimakrise aufzeigen – und zu uns.

Ziele für 2035 und 2050, Horrorszenarien für 2100: Irgendwie scheint die Klimakrise noch immer weit weg – oder? Nicht so für Line Nagell Ylvisåker. Die norwegische Journalistin lebt seit 15 Jahren auf Spitzbergen, in jenem Teil der Welt, der neben einigen anderen Inseln den Klimawandel vielleicht am stärksten spürt: 2016 lag dort die Jahresdurchschnittstemperatur 6,6 Grad über dem langjährigen Mittel, der Niederschlag übertraf den historischen Durchschnitt um mehr als 60 Prozent.

»Soll ich mit meiner Familie hierbleiben?«

In »Meine Welt schmilzt« trägt die Autorin in lebendigen Szenen die Veränderungen rund um ihre Wahlheimat zusammen, geht deren Ursachen auf den Grund und erläutert verständlich die großen Zusammenhänge der Klimakrise. Ihr Leitmotiv: »Ich wollte verstehen, was eigentlich vor sich geht, wie die Naturvorgänge zusammenhängen, wie das Klima funktioniert, wie sich das Wetter hier auf der Inselgruppe und im Rest der Welt ändert, falls oder wenn die Arktis schmilzt.« Es kulminiert in der Frage: »Soll ich mit meiner Familie hierbleiben?«

Man merkt schnell, dass die Autorin ihr Handwerkszeug gelernt hat: Mit der dramatischen Nacherzählung eines Lawinenunglücks aus der Perspektive überlebender Verschütteter beginnt das Buch. Mitten in ihrer Heimatstadt Longyearbyen, in einem Stadtteil, der noch nie von einer Lawine getroffen wurde, sterben Menschen in ihren Häusern. »Sie wurde quer durch den Raum geschleudert und knallte mit dem Kopf gegen etwas Hartes. Erst mit dem Hinterkopf, dann mit der Stirn«, heißt es im Einstieg. »Darauf folgt ein leises Sausen, und sie begriff, dass es der Schnee war, der den Raum füllte.«

So dramatisch geht es im restlichen Buch selten zu, doch das Muster zieht sich durch. Reist Ylvisåker mit Polarforschenden auf einen Schiff durch die Arktis, schildert sie ihre Erfahrungen mit der Seekrankheit. Geht es um die Klimawandelfolgen für die Eisbären, erzählt sie von einer nicht ungefährlichen Urlaubsbegegnung ihrer Familie mit den bedrohten Riesen der Arktis. Persönliche und überlieferte Erfahrungen sowie solide Recherchen zeichnen eindringlich und spannend ein Bild davon, wie sich das Leben auf Spitzbergen in wenigen Jahrzehnten grundlegend verändert hat und dass der Wandel voll im Gang ist.

Die Autorin unterschlägt dabei nicht die Skepsis einzelner Alteingesessener, die sich angesichts der Wetterextreme an frühere Zeiten erinnern, in denen dies oder jenes schon einmal besonders war, und die deshalb den menschlichen Anteil am Klimawandel anzweifeln. Ylvisåker stellt dem jedoch stets die Fakten und Analysen der Wissenschaft entgegen, aus denen schnell klar wird, dass die heutigen Veränderungen in der Arktis etwas Systematischeres, Dramatischeres sind als einzelne Wetterextreme der Vergangenheit. Dennoch heißt es vereinzelt auch mal: »Gegenwärtig gibt es mehr Fragen als Antworten.« »Meine Welt schmilzt« ist reich an Gesprächen mit besorgten Forschenden aus Meteorologie, Klimawissenschaft, Ozeanologie oder Ökologie. Doch es ist das Extreme ihrer Beobachtungen, das erschüttert.

Im Verlauf des Buchs erfährt man, wie einschneidend sich das Leben auf Spitzbergen bereits gewandelt hat: die Angst vor Lawinen und Bären, die auf Nahrungssuche immer häufiger in Siedlungen eindringen; der Stress durch den Tourismus, den das ausbleibende Eis in der arktischen See erst ermöglicht hat; die Gefährdung des Saatguttresors infolge des tauenden Permafrosts. Die Liste ließe sich fortsetzen. Es ist dieser Zusammenhang zwischen den für alle sichtbaren Veränderungen der Welt um sie herum, den daraus resultierenden Ängsten und Nöten und der eindeutigen Verknüpfung mit dem menschlichen Handeln und der Klimakrise, die Ylvisåkers Buch so eindringlich machen. Auf Spitzbergen ist die Klimakrise schon heute Realität. Das Werk holt sie für alle anderen, für die die Krise noch weit weg scheint, nah heran und verwandelt abstraktes Wissen in menschliche Schicksale – Schicksale, wie sie zunehmend auch in anderen Teilen der Welt zum Alltag werden.

Der Journalistin Ylvisåker ist es gelungen, in einer Art großem Feature spannende Fakten über Spitzbergen, die Arktis und das Klima ebenso wie die Dringlichkeit des Handelns gegen die Klimakrise zu vermitteln, ohne zu moralisieren. Das zeigt nicht zuletzt ihr persönliches Fazit auf die Frage, ob sie mit ihrer Familie die Insel wieder verlassen werde: »Vielleicht. Aber im Moment ist das hier unser Zuhause. […] Aber das Spitzbergen, das meine Urenkel bewohnen oder besuchen werden, wird anders aussehen als heute. Vielleicht gibt es die Arktis dann nicht mehr.«

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