»Mensch und Meer«: Das Meer – so weit und so groß
Die Salzwasserlagune Mar Menor in Spanien erhielt im September 2022 als Ökosystem den Rechtsstatus einer Person. Jetzt dürfen Bürger klagen, wenn sie die Rechte der Lagune verletzt sehen. Bislang war Umweltschutz menschenzentriert. Der Umwelt eigene einklagbare Rechte zuzuerkennen, sei eine »Revolution, die dem derzeitigen Wirtschaftssystem, das den Planeten zerstört, Grenzen setzen wird«, erklärte die Philosophieprofessorin der Universität Murcia, Teresa Vicente.
Mit dieser juristischen Geschichte und der Geschichte der Meeresforschung führt die Herausgeberin Andrea Stegemann in das Buch über die vielen Aspekte des Meeres ein. Als Chefredakteurin der Magazine bild der Wissenschaft und natur versammelt sie in diesem Buch verschiedene Beiträge von acht Autoren und Autorinnen rund um den sauberen, produktiven und inspirierenden Ozean, aber auch über die Zerstörung und Nutzung durch den Menschen.
Das Besondere an dem Buch ist, dass so viele Aspekte Platz darin finden: alte und neue Meeres-Handelsrouten, antike Schiffsbauten im Detail, das Meer als Ursprung für das Leben auf der Erde, die Suche nach Rohstoffen für Hightech-Geräte, die maritime Speisekammer mit Dorsch und Co., noch verborgene medizinische Wirkstoffe und die Folgen der Verschmutzung durch den Menschen.
So umfassend die Themen sind, so vielfältig ist auch das Spektrum der angeführten Forscher: die Meeresforscherin und Professorin Antje Boetius, Historiker wie Christoph Schäfer, Berufsfischer, Ozeanografen, Klimaforscherinnen, Biologen, Ingenieurinnen.
Doch trotz aller Fülle, das Buch überfordert die Leser nicht. Jedes Thema hat vier oder sechs Seiten, auf denen auch aktuelles Geschehen Platz findet: der Krieg in der Ukraine, Putins Planungen zur Nordostpassage oder die beschleunigte Bewilligung zur Erdgasförderung vor der Insel Borkum.
Atemberaubende Fotos von Tauchern und Schiffswracks, von gespenstisch anmutenden Kraken, Farblithografien von Häfen alter Handelsstädte, aber auch unbekannteres Wissen wie die Erfindung des ersten »nassen Kompasses« in China, die Amphore als der erste Schiffscontainer, schwimmende Monster-Ölplattformen mit dem Namen Goliat oder winzige Algen, die wie Wagenräder anmuten: So vielfältig wie das Meer sind auch die Berichte in dem Band.
Es geht aber auch um die Zerstörung. Ein einsamer Kadaver eines ölverschmierten Kormorans als Zeichen der Ölverschmutzung oder lange auf dem Wasser treibende Ströme gelb-braunen Öls nach dem Brand der Deepwater Horizon. Das sind die sichtbaren Zeichen, das eher unsichtbare ist die schleichende Ölverunreinigung allein schon während des regulären Schiffsbetriebs, die ein Drittel der Ölverschmutzung ausmacht.
Warum allerdings im Kapitel zur Zukunft der Schifffahrt die kuriose Idee der Atomschiffe einen großen Platz erhält, erschließt sich nicht. Sie sollten, wie der Autor schreibt, einmal im Meer verteilt als schwimmende Tankstellen dienen, an denen Urlaubsschiffe »während ihrer Reise ihre Batterien aufladen können«. Oder warum das längst in der Klimawirkung als nachteilig bewertete und umstrittene Flüssiggas als »klimafreundlicher« Schiffstreibstoff und »risikoärmster Weg« gelobt wird. Zumal im Januar 2023 die Betreiber der ersten Kreuzfahrtschiffe mit Flüssiggasantrieb verkündeten, aufgrund der Kosten wieder auf Diesel umzustellen.
Das Meer ist nicht unverwundbar, leitet das Abschlusskapitel ein, auch wenn es so weit und so groß erscheint. Bislang werde immer nur gefordert, das sensible Meer vor einem Kollaps zu schützen, so der Autor dieses Kapitels. Oft fehle es jedoch am gemeinsamen Willen, selbst kleine Gebiete zu schützen, oder Schutzgebiete funktionierten nicht. Im Schlusssatz hofft der Autor, dass die UN-Dekade der Meeresforschung für nachhaltige Entwicklung von 2021 bis 2030 eine Trendwende schafft. Das erscheint nach der Lektüre des Buches als wichtig, aber auch wenig realistisch. Vielleicht braucht auch das große Meer so wie die kleine Lagune in Spanien einen Status als juristische Person. Wenn das Meer einmal vor einem Gericht klagen könnte, ob dann der Zerstörung wirksam Grenzen gesetzt werden können?
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