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Was den Menschen einzigartig macht

Studien an Menschenaffen und Kleinkindern geben Aufschluss über das Zusammenspiel von Genetik und Kultur.

Wie konnte sich der Mensch zu einer Spezies entwickeln, die anders als alle anderen Tiere fortgeschrittene Technologien entwickelt und nutzt, hochkomplexe Sozialstrukturen pflegt und eine außergewöhnliche kulturelle Diversität aufweist? Für den Anthropologen Michael Tomasello liegt die Antwort nicht allein in der Evolution des Genoms, sondern auch in der Ontogenese, also der Individualentwicklung jedes Menschen vom Säugling bis zum Erwachsenen. Neun Jahre lang hat Tomasello als Kodirektor am Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig intensiv über Menschenaffen verschiedener Altersstufen sowie über menschliche Kleinkinder geforscht. Dabei hat er detailliert herausgearbeitet, in welchem Alter sich bestimmte kognitive und soziale Fähigkeiten erstmals zeigen, worauf sie aufbauen und worin sich Mensch und Affe unterscheiden.

Mensch werden durch soziokulturelle Tätigkeiten

Das Fazit seiner Arbeiten stellt Tomasello in diesem Werk vor. In einem einleitenden Teil erläutert er Grundlagen der Evolution, Ontogenese und Entwicklungspsychologie. Dabei legt er den Fokus auf die Frage, worin sich Menschen von ihren vormenschlichen Vorfahren unterscheiden und in welchen Umweltfaktoren und Sozialbedingungen das begründet liegt. Eine Basis seiner Ausführungen bilden die Theorien des sowjetischen Psychologen Lew Semjonowitsch Wygotski (1896-1934). Dieser ging davon aus, ein Mensch könne alle einzigartig menschlichen Eigenschaften und Fähigkeiten nur durch soziokulturelle Tätigkeiten erwerben. Tomasello erweitert das durch eine evolutionäre Perspektive: Ihm zufolge erfordert eine normale menschliche Ontogenese sowohl Reifungsprozesse, die auf biologischen Eigenschaften der Spezies Mensch beruhen, als auch soziokulturelle Erfahrungen.

Der Hauptteil des Buchs dreht sich ausführlich um die Ontogenese der einzigartig menschlichen Kognition und Sozialität. In acht Unterkapiteln geht es um die Entwicklung von sozialer Kognition, Kommunikation, kulturellem Lernen, kooperativem Denken, Zusammenarbeit, Prosozialität, sozialen Normen und moralischer Identität. Den Ausgangspunkt jedes Kapitels bilden die Fähigkeiten von Menschenaffen. Anhand von Verhaltensstudien an Menschenaffen und Kleinkindern, von denen Tomasello viele selbst durchgeführt hat, beschreibt er Gemeinsamkeiten und markante Unterschiede. Beispielsweise können Menschaffen ebenso wie Kleinkinder durch Imitation lernen. Während aber Kleinkinder ihre Aufmerksamkeit auf die Handlung als solche legen und diese so exakt wie möglich kopieren, fokussieren sich Menschenaffen auf das Ergebnis und reproduzieren nur dieses, wobei sie Handlungsschritte, die sie als unnötig erachten, auslassen.

Aufbauend auf den geschilderten Studienergebnissen entwickelt Tomasello theoretische Erklärungen, wie es zu den Unterschieden kommen konnte. Das Imitationslernen etwa erfüllt ihm zufolge für Menschen nicht nur den Zweck, neue Problemlösungsfähigkeiten zu erwerben. Ebenso wichtig sei es, durch exakte Nachahmung Konformität mit der Gruppe zu signalisieren, um soziale Bindungen zu stärken. In allen Kapiteln geht der Autor außerdem auf individuelle und kulturelle Variationen ein, wobei er sowohl Studien mit Angehörigen anderer Kulturkreise einbezieht als auch Verhaltensexperimente mit autistischen Kindern. Jeder Abschnitt endet mit einem Diagramm, das den zuvor beschriebenen Entwicklungspfad grafisch darstellt.

Im Schlussteil fasst der Autor seine Theorie zusammen. Während er in den vorangegangenen Kapiteln einzelne Entwicklungspfade im Detail beleuchtet hat, integriert er hier die Erkenntnisse in ein Gesamtbild der Ontogenese des Menschen – vom Säugling bis zum Schulkind. Alle entscheidenden Eigenheiten der menschlichen Psychologie haben sich demnach in Anpassung an die »hyperkooperative« Lebensform des Menschen entwickelt. Nur Menschen sind laut Tomasello zu einer Form des gegenseitigen Verständnisses in der Lage, die er als »gemeinsame Intentionalität« bezeichnet. Sie wissen voneinander, dass sie einen gemeinsamen Hintergrund haben, können ihre gemeinsame Aufmerksamkeit auf ein gemeinsames Ziel richten und kooperativ kommunizieren. Die Grundlagen dazu zeigen sich bereits bei Säuglingen, die ihre Bezugspersonen anlächeln oder ihrem Blick folgen und so eine soziale Bindung aufbauen.

Mit seinem Fokus auf die kooperativen Fähigkeiten des Menschen ist das Werk auch über seinen fachlichen Beitrag hinaus gesellschaftlich relevant. Allerdings ist es sehr fachnah geschrieben, so dass das Lesen viel Konzentration erfordert. Die Zielgruppe sind offenbar eher Fachleute als interessierte Laien. Für wissenschaftliche und pädagogische Zwecke stellt Tomasello auf der Website zum Buch mehrere Videos zu zahlreichen Verhaltensexperimenten mit Menschenaffen und Kleinkindern zur Verfügung.

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