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(K)ein unveräußerliches Gut

"Unser aller Menschenwürde wurde aufs Spiel gesetzt." Mit diesen Worten fasste der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker die Ereignisse des Jahres 1992 zusammen, als in Rostock Asylbewerberheime brannten, Molotowcocktails flogen und Angriffe auf Schutzsuchende mit Applaus bedacht wurden.

In dem einfachen Satz stecken bei genauerem Hinsehen komplexe Streitfragen, die Juristen, Rechtsphilosophen und Ethiker seit Langem umtreiben: Was genau ist die Menschenwürde? Ist sie eine dem Menschen angeborene, unveräußerliche Eigenschaft oder eine Idee, die zu akzeptieren uns das Grundgesetz vorgibt? Und setzt ein Mensch, der einen anderen in seiner Menschenwürde verletzt, seine eigene Würde aufs Spiel?

Nach der Lektüre von Dietmar von der Pfordtens Überblicksband ist der Leser in der Lage, sich selbstständig Antworten auf diese Fragen zu erarbeiten. Der Autor ist Professor für Rechts- und Sozialphilosophie an der Universität Göttingen. Mit profundem Fachwissen führt er durch den Debattendschungel rund um die juristische Auslegung und ethisch-philosophische Interpretation der Menschenwürde. Vor allem aber beleuchtet er jene Argumentationswege, auf denen etwa das Bundesverfassungs­gericht oder verschiedene Vertreter der Rechtsphilosophie zu ihren teils weit divergierenden Entscheidungen und Bewertungen kommen. Auf diese Weise stattet von der Pfordten seine Leser mit dem analytischen Rüstzeug aus, sich auch mit solchen Beispielen kritisch auseinanderzusetzen, welche er auf den knapp 130 Seiten des Buchs nicht explizit behandelt.

Große und kleine Würde

Dabei liefert der Autor keine verbindliche Defini­tion der Menschenwürde, sondern verweist durchweg auf die verschiedenen Auslegungen und Teilbegriffe. Eine absolute Auffassung des Konzepts etwa, so von der Pfordten, verstehe die Würde als eine innere, im Kern unveränderliche und unantastbare Eigenschaft des Menschen. Oder anders formuliert: als das "Recht auf die Selbstbestimmung über die eigenen Belange". Der Autor spricht hier von der "großen" Menschenwürde. Daneben steht die Auffassung von der "kleinen" Würde, die man vereinfacht als das Recht eines Menschen auf seine "wesentliche soziale Stellung" bezeichnen könne.

Diese Unterscheidung greift von der Pfordten bei der Frage auf, ob ein Mensch, der die Würde eines anderen verletzt, seine eigene Würde riskiere – eine Frage, die von Weizsäcker in seiner Rede mit einem klaren Ja beantwortet hatte. Mit dem Autor können wir hier argumentieren, dass die Angreifer von Rostock zwar nicht ihre große, dafür aber ihre kleine Menschenwürde aus Spiel setzten. Denn jeder Mensch, der die Selbstbestimmung eines anderen verletzt, mindert dadurch seine eigene kleine Würde in Form seiner sozialen Bewertung durch andere – zumindest in Deutschland, wo die Würde des Menschen als unantastbar im Grundgesetz verankert ist.

Argumentationslinien statt einfacher Antworten

Dieses stark vereinfachte Beispiel zeigt, was der Leser von Pfordtens Buch zu erwarten hat – und was nicht. Der Autor liefert Argumentationslinien, keine einfachen Antworten. Er gibt einen Überblick über diffizile Debatten, aber er plädiert nicht für eine bestimmte Meinung. Es ist keine leichte Lektüre, und gerade Leser ohne rechts- und geisteswissenschaftlichen Hintergrund werden sich an manchen Stellen schwer tun.

Dennoch ist es ein wichtiges und empfehlenswertes Buch, das auch Lesern jenseits der spezialisierten Fachdisziplinen die methodischen Grundlagen an die Hand gibt, Verletzungen der Menschenwürde zu erkennen und argumentativ sauber zu benennen, ohne sich dabei auf die eigene Intuition verlassen zu müssen. Das ist umso wichtiger in einer Zeit, in der zuwanderungsbedingte Konflikte uns erneut in Erinnerung rufen sollten, warum die Menschenwürde 1949 zum unumstößlichen Fundament des deutschen Grundgesetzes wurde.

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