»Mit Nachsicht«: Umdenken für eine bessere Welt
Wie wäre es, wenn andere uns nicht dauernd feindselig gegenüberstünden und es immer weniger Gewalt und Kriege gäbe? Was wie eine schöne Vorstellung klingt, ist bereits Realität, argumentiert Verhaltenstherapeut Sina Haghiri und belegt dies mit vielen Zahlen und Fakten. So stehen den in Deutschland jährlich 640 verübten Morden 10 000 tödliche Haushaltsunfälle gegenüber. Mit einem Augenzwinkern räumt er ein, dass der »Tatort«-Krimi wohl besser zu Hause spielen sollte. Doch in den Augen vieler wird die Welt immer gefährlicher, andere Menschen werden immer egoistischer und böser. Warum ist das so, und wie können wir zu einer Sichtweise gelangen, die dichter an der Realität und gleichzeitig gesünder für unsere Psyche ist?
Zuerst gelte es zu schauen, so der Autor, mit welchen Informationen wir unser Gehirn füttern. Konsumieren wir ausschließlich aufmerksamkeitsstarke Social-Media-Posts, die möglichst überbordende Emotionen wecken sollen, empfangen wir auch nur reißerische und schockierende Botschaften, welche die Welt weitaus schlimmer zeichnen, als sie de facto ist. Dass gerade solche Posts zu hohen Klickzahlen führen, liegt an der Funktionsweise unseres Gehirns: Evolutionär bedingt reagiert es stärker auf Inhalte, die bedrohlich wirken und Angst auslösen. Deshalb sollten wir vermeintliche Beweise dafür, dass der Mensch böse sei, stets genau unter die Lupe nehmen. So zeigt Haghiri, dass beispielsweise Philip Zimbardos bekanntes Stanford-Prison-Experiment – geläufiger Beweis für das Böse im Menschen – methodisch unsauber und manipuliert war. Zimbardo, Autor verschiedener Lehrbücher und langjähriger Präsident der American Psychological Association, erzeugte darin eine Gefängnissituation, in der die als Wärter Eingeteilten schnell sadistische Verhaltensweisen zeigten. Erst Jahre später, nach der Sichtung der Protokolle, wurde klar, dass Zimbardo in das Experiment eingegriffen hatte, indem er entsprechende Befehle gab. Dies war nur einer seiner methodischen Fehler, und auch das Abhängigkeitsverhältnis der teilnehmenden Studenten von ihm als Professor lässt die Ergebnisse des Experiments als fragwürdig erscheinen. Ähnlich wie im ebenso seitens der Forschenden manipulierten Milgram-Experiment liefert es nicht mehr als einen Beleg für die Überzeugungskraft des jeweiligen Storytellings sowie dafür, dass wir auf Gefahren stärker reagieren als auf gute Nachrichten.
Wie eine gelungene Therapiesitzung
Da ihn diese vermeintlichen Beweise für das Böse im Menschen nicht überzeugen, bringt Sina Haghiri die Nachsicht ins Spiel. Sein Argument: Wenn der Mensch nicht von Grund auf böse ist, muss es andere Gründe dafür geben, dass er sich mitunter rüpelhaft benimmt. War es vielleicht ein familiärer Notfall, der zu rücksichtslosem Verhalten im Straßenverkehr führte? So wäre es zumindest möglich, mit dieser Person Nachsicht zu üben. Wenn man dieses Konzept ebenso bei der Beurteilung des eigenen Verhaltens anwende, sei viel gewonnen, so der Autor. Nachsicht sei keine Einbahnstraße, sie wirke anderen gegenüber ebenso wie beim Blick auf uns selbst.
Dem Einwand, dass man sich durch Nachsicht doch kleinmache, begegnet der Autor – der bereits eine Grimme-Nominierung für das Drehbuch zur ZDF-Serie »Fett und Fett« erhielt – mit überzeugenden Fallgeschichten. So berichtet er von der ersten weiblichen Marathonläuferin, die der Veranstalter aus dem Verkehr ziehen wollte, da Frauen seiner Meinung nach keinen Marathon laufen konnten. So lief er ihr im Rennen hinterher und versuchte, sie aufzuhalten. Die Athletin verhielt sich ihm gegenüber verständnisvoll und zeigte damit, dass man Wut wahrnehmen, dann aber auch nachsichtig auf sie reagieren kann. Sie führte sich die Motive des anderen vor Augen, blieb souverän und zeigte Größe. Damit eröffnete sie ihm die Möglichkeit, aus seinem Fehler zu lernen, was er auch tat – beide verband danach eine langjährige Freundschaft.
Dieses Buch gibt zwar durchaus auch gute Ratschläge, erinnert aber dank der Tiefe der vermittelten Einsichten eher an eine Therapiesitzung denn an einen herkömmlichen Ratgeber. Seine klare, unaufdringliche Sprache wirkt sanft, aber überzeugend – »mit Nachsicht« eben.
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