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»Montaigne«: Zwischen Finten und Masken die Wahrheit erkennen

Die Biografie »Montaigne« von Volker Reinhardt bietet ein umfassendes Bild des großen Skeptikers und zeigt, wie Montaigne in seinen Essais seine wahren – damals gefährlichen – Gedanken geschickt zwischen den Zeilen versteckte.
Replika einer Schriftrolle

Michel de Montaignes (1533–92) Aktualität scheint ungebrochen. Der Büchermarkt bietet viele Ausgaben der »Essais«, von alten Übersetzungen aus dem 18. Jahrhundert bis hin zu neueren Gesamtdarstellungen und Auswahlen. Ende 2022 erschien zudem der lesenswerte Roman »Montaignes Katze« von Nils Minkmar. Als ich daher kürzlich einer Freundin schrieb, dass ich die neue Biografie über ihn lese, antwortete sie postwendend: »Der passt in unsere Zeit, weil er schon damals auch als schräger Vogel wahrgenommen wurde. Divers!«

Da ist was dran. Die neue großartige Biografie des Fribourger Historikers Volker Reinhardt »Montaigne. Philosophie in Zeiten des Krieges« macht das auf der ersten Seite klar. »Michel de Montaigne schrieb seine Essais ab 1571 in Zeiten des Bürgerkriegs«, den mehr als 40 Jahre andauernden Kämpfen zwischen Katholiken und Hugenotten um die Macht in Frankreich. Verrohung und Schlachten prägten den Alltag. »Die davon ausgehende Bedrohung ist in Montaignes Werk allgegenwärtig … Umso mehr waren Strategien des Überlebens gefragt. Das Schreiben gehörte dazu. Und eine freundliche Miene zum grausamen Spiel.«

Damit ist der Rahmen abgesteckt, in den Reinhardt den bedeutenden französischen Philosophen einordnet. Reinhardt beschreibt das Leben Montaignes aus den »Essais«, den »Versuchen« – Montaigne gilt als Erfinder dieser literarischen Gattung –, indem er sie zwischen den Zeilen liest. Dabei entschleiert er Finten und Masken, Verstellungen und bewusste Irreführungen, die Lesern schon immer Schwierigkeiten bereiteten und durch die sie hindurchmussten, bis sie hinter die wahren Absichten des Autors kommen konnten.

Reinhardts Biografie zeigt zielsicher, wie Montaigne geschickt lavierte und sich dennoch treu blieb. Der Vater hatte das Schloss de Montaigne nahe Bordeaux gekauft und somit das Adelspatent erworben: Die Familie war in den niederen Adel aufgestiegen. Den Sohn drängte es in Politik und Diplomatie, so dass ihm sogar der Aufstieg in einen höheren Adelsstand gelang: Er bot Altadligen seine Dienste an, erwarb sich den Ruf eines Vermittlers zwischen Katholiken und Hugenotten und wurde 1571 von Karl IX. »für seine Tugenden und Verdienste« als Ritter in den »Ordre de Saint-Michel« berufen. Damit war er formell nobilitiert; 1577 kam die Berufung zum Kammerdiener von Heinrich IV. (Heinrich von Navarra) hinzu.

Ab 1571 widmete er sich der Niederschrift der Essais. Die ersten beiden Bände erschienen 1580; die zweite Auflage erfolgte 1588, um einen dritten Band erweitert. Manche haben das Denken Montaignes in drei Phasen unterteilt, die stoische, die skeptische und die epikureische. Reinhardt interpretiert Montaignes Essais durchgehend aus dem Blickwinkel der Skepsis und dessen Lektüre von Sextus Empiricus, erkennt aber auch taktische Klugheit, weil Montaigne in seinen Texten Gedanken verfolgte, die in den ideologisch-brutalen Auseinandersetzungen der Zeit gefährlich waren.

»Der Ausgangspunkt dieser globalen Denkaufgabe war für Montaigne die heillose Selbstüberschätzung des Menschen.« Im längsten Essai, der »Apologie de Raymond Sebond«, sieht Reinhardt das philosophische Fundament von Montaignes Position. »Es gibt keinen Beweis für den göttlichen Ursprung der christlichen Offenbarung. Aber es gibt gute irdische Gründe dafür, an der angestammten Religion festzuhalten.« Daraus begründet er den Konservativismus des Skeptikers, der im umfassenden Zweifel lieber der Tradition verpflichtet bleibt. Aus der »Anleitung zur Skepsis« folgt die »Anleitung zum Leben«. Ein offenes agnostisches Denken war damals nicht opportun, sogar gefährlich. Montaigne baute daher allerlei Finten und Irreführungen ein, mutete seinen Lesern die Mühe zu, daraus den Funken Wahrheit zu destillieren. Er behauptete etwas, vergewisserte sich bei antiken Schriftstellern, nahm es wieder zurück und schützte sich schließlich mit umfassendem Nichtwissen: »Que sais-je?«, »Was weiß ich?«, wird zu seinem Lebensmotto. Die Behauptung aber war als Gedanke in der Welt.

So ist nach Reinhardt auch die Reise nach Rom als großes Wagnis und Finte zugleich zu lesen: Montaigne legt dort der Kongregation seine Essais vor. Er will wissen, ob er sich zu weit vorgewagt habe. Ihr Urteil ist gemischt, Korrekturen werden erwartet, aber kein Verbot erteilt. Der Autor reist zufrieden zurück mit der Erfahrung, dass man nicht zu genau geprüft hatte. Erst knapp 100 Jahre später, 1676, kamen die Essais dann auf den Index verbotener Bücher, wo sie bis 1854 blieben.

Volker Reinhardts Biografie bietet ein umfassendes Bild des großen Skeptikers Montaigne. Eine Zeittafel, Quellen, Hinweise auf zeitgenössische Literatur, eine Auswahl wissenschaftlicher Literatur und ein Namenregister bieten weitere Orientierung. Seine Biografie macht Lust, die Essais aus erweitertem Blickwinkel zu lesen.

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