»Moralische Gefühle, moralische Wirklichkeit, moralischer Fortschritt«: Ein realistischer Blick auf die Moral
Wir erleben derzeit einerseits die Entfesselung von Unmoral in geopolitischem Machtstreben und Extremismus, andererseits die Diskussion noch feinster moralischer Aspekte in Mikroaggressionen und Sprachgebrauch. Sind Moraldiskussionen also zum unzeitgemäßen Luxus geworden? Wohl kaum – denn Moral bedingt unser Handeln.
Worauf beruht menschliche Moral, und wie hängen moralische Gefühle und moralischer Fortschritt zusammen? In zwei Vorträgen diskutiert Thomas Nagel diese Fragen. Im ersten Vortrag geht es ihm um die Autorität moralischer Urteile: Was veranlasst uns zu denken, diese oder jene Handlung sei moralisch richtig oder falsch? Nagel behauptet, dass Menschen von vornherein Grenzen im Handeln spürten, dass »moralische Intuitionen einen prima facie Anhaltspunkt für diese Untersuchung liefern«. Dabei stellt er »Konsequentialismus« (Utilitarismus) und »Deontologie« (Pflichtethik) in einem Pro und Contra einander gegenüber und arbeitet ihren Antagonismus heraus: Wenn wir uns auf den Utilitarismus festlegten und alle Handlungen nur mit Blick auf ihre Konsequenzen für die Allgemeinheit dächten, würden wir gleichsam die Unverletzlichkeit des Individuums (die in der Pflichtethik primär ist) »dem Allgemeinwohl opfern«. Er beschließt die Gegenüberstellung mit der Aussage, dass beide Positionen praktikabel seien.
Nagel betont, dass diese Moraltheorien keine »alternativen Beschreibungen der äußeren Welt sind, sondern normative Alternativen«. Er erklärt, dass sie auf »moralischen Intuitionen« gründen, erläutert aber nicht, woher diese Intuitionen stammen – ob sie also angeboren oder kulturell erworben sind. Das ist ein Manko, denn die Intuitionen bilden ja den Ausgangspunkt für Wertungen und Urteile.
»Welche Art des Denkens über den moralischen Fortschritt ist richtig?«, lautet die Ausgangsfrage des zweiten Vortrags. Moralische Wahrheit sei »ein Vorankommen beim Verständnis oder bei der Erkenntnis und nicht bloß beim Verhalten«. Nagel geht als Realist davon aus, dass die praktische Vernunft Einsicht in Gründe hat; gleichzeitig stellt er fest, dass normative Aussagen über Gründe von Handlungen »zu den Sorten von Dingen gehören, die für sich genommen wahr sein können, ohne unter dem Aspekt irgendeines anderen Typs von Wahrheit analysiert werden (zu) müssen« – etwa »geistige Tatsachen, physikalische Tatsachen, mathematische Tatsachen, soziale Tatsachen«.
Bevor sie als »Moral« gelten können, müssten die Gründe für moralische Tatsachen den Menschen »zugänglich« sein, und sie müssten die Fähigkeit erwerben, sie zu erkennen. »Der moralische Fortschritt ist auf die Entwicklung von Formen des Denkens und der Rechtfertigung angewiesen, die einen Zugang zu moralischen Gründen verschaffen, welche zuvor nicht zugänglich waren.«.
Auch die Menschenrechte sind historisch
Moral entwickle sich »sowohl individuell als auch sozial und politisch durch ein unentwegtes Zusammenspiel von persönlichen und unpersönlichen Gründen, das Institutionen und Praktiken prägt, die dann zu neuen Fragen und neuen Gründen führen«, schreibt Nagel. Moralischen Fortschritt erläutert er beispielhaft in vier Spannungsfeldern: 1. verfassungsmäßige Regierung und individuelle Rechte; 2. Gleichheit und soziale Gerechtigkeit, 3. sexuelle Normen und sozialer Status, 4. globale Gerechtigkeit und Staat.
Heute denken viele, dass die allgemeinen Menschenrechte zeitlos und die Gründe dafür schon immer einsichtig gewesen seien. Dieser universalistische Ansatz verkennt, dass Rechte wie Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit, Privatsphäre, sexuelle Freiheit et cetera auf Voraussetzungen beruhen, die erst mit einer historisch relativ jungen Definition des Verhältnisses von Individuum und Staat möglich wurden: »In dem Maße, wie sie [die individuellen Rechte, JK] gesetzlich geschützt sind, geschieht dies, weil sie als Rechte anerkannt worden sind, die der Staat seinen Staatsangehörigen als moralische Bedingung seiner Legitimität zusichern muss.« Dazu musste erst das »vage Gefühl« aufkommen, dass alle Individuen »irgendeine Form von grundlegender Unantastbarkeit für sich beanspruchen können, da diese Unantastbarkeit zu ihrem moralischen Status gehört«. Mit reiner Vernunft sei das nicht zu erklären. Heute gilt diese Unantastbarkeit als Grundlage der Moral in westlichen Demokratien.
In ähnlicher Weise übernahm der Staat »kollektive Verantwortung« für die Verteilung von Eigentumsrechten oder bei der Regelung sexueller Belästigungen; diese charakterisiert Nagel als zwischenmenschliche Grenzüberschreitungen und soziale Ungerechtigkeit, nicht ohne dabei einen ironischen Blick auf das eigene Geschlecht zu werfen, demzufolge »Sex Männer von Natur aus dazu verleitet, sich manchmal idiotisch zu verhalten«.
Ob eine Globalisierung der Gerechtigkeit zwischen den Staaten gelingen könne oder die »robuste Überzeugung« vom Recht jeder Nation, »den eigenen Bürgern Vorrang einzuräumen«, sie verhindere, ist eine Frage für die Zukunft, auf die Moral eine globale Antwort erst noch finden müsse.
Nagels Vorträge mögen auf den ersten Eindruck leicht verständlich und lesbar erscheinen. Tatsächlich erfordern sie eine intensive Lektüre. Deren Gewinn ist dann eine realistische Sicht auf Moral, ihre Grundlagen sowie ihre Historizität.
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