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»Mütter Europas«: Frauen in der Vorgeschichte

Waren die prähistorischen Kulturen Europas immer männlich dominiert? Welche Rolle nahmen Frauen ein? Die Journalistin Karin Bojs begibt sich auf eine archäologische Spurensuche.
Prähistorische Jäger und Sammler tragen Tierhäute und essen Fleisch in einer Höhle in der Nacht

Was symbolisiert die berühmte Venus von Willendorf? Die elf Zentimeter große, etwa 30 000 Jahre alte Steinfigur zeigt eine stark übergewichtige Frau, deren Sexualorgane und Becken deutlich herausgearbeitet sind. Ist sie Ausdruck eines steinzeitlichen Fruchtbarkeitsglaubens, wurde sie in einem speziellen Ritual genutzt oder handelt es sich sogar um Pornografie? Seit man sie 1908 in der Wachau gefunden hat, wurden diese und einige ähnliche Plastiken unterschiedlich interpretiert. Die schwedische Wissenschaftsjournalistin Karin Bojs wirft anhand der historischen Diskussionen zwei Fragen auf: Wer beurteilte solche Funde? Und was kann über die Rolle von Frauen in prähistorischen Gesellschaften gesagt werden?

Die Autorin argumentiert in ihrem Buch, dass unser Bild der Steinzeit stark patriarchalisch geprägt sei. Zwar könne dies durchaus der historischen Wahrheit entsprechen. Doch die Autorin gibt zu bedenken, dass die archäologischen Interpretationen maßgeblich vom 19. und 20. Jahrhundert beeinflusst sind. Nationalismus, Kolonialismus, Rassismus und patriarchalisches Denken haben ihre Spuren hinterlassen, so Bojs. Zudem waren die meisten Archäologen Männer. Konkurrierende Ortsnamen für ähnliche Kulturschichten wurzelten in nationalistischem Denken. Und selbst die grundlegende Einteilung der Prähistorie in eine Stein-, Bronze- und Eisenzeit berge Schwierigkeiten. Sie geht auf den dänischen Forscher Christian Jürgensen Thomsen (1788–1865) zurück. Dieser versuchte, die Vorgeschichte nach den jeweils hauptsächlich genutzten Materialien zu gliedern. Stein, Bronze und Eisen sind äußerst haltbar und haben überdauert. Doch Bojs argumentiert, dass sie schnell mit männlichen Tätigkeiten assoziiert werden. Dagegen bleiben weichere Materialien wie Pflanzenfasern oder Textilgewebe nicht so gut erhalten. Diese werden häufig mit weiblichen Tätigkeiten verknüpft, über die wir aber kaum etwas wissen. So könne ein verzerrtes Bild der Vorgeschichte entstehen. Zudem müssten die Migrationswellen nach Europa stärker berücksichtigt werden. Diese ließen sich aber nur begrenzt anhand von kulturellen Einflüssen auf produzierte Materialien wie Ton rekonstruieren; hier seien inzwischen vor allem DNA-Analysen maßgeblich.

Eine neue Epochengliederung

Bojs verortet die Entstehung des Homo sapiens in Afrika. Vor 55 000 Jahren begann dieser, von dort auszuwandern. Noch heute können alle Menschen ihre Mütterlinie auf eine Frau zurückführen, die vor 200 000 Jahren in Afrika gelebt hat. In Europa setzte sich der Homo sapiens gegen den Neandertaler durch, der vor 39 000 Jahren ausstarb. Zwar besitzt der heutige Mensch auch einige Neandertalergene, was auf gemeinsame Nachkommen der beiden Gruppen hindeutet. Doch geht die Autorin davon aus, dass die Kontakte zwischen diesen Menschenformen in der Regel nicht friedlich verliefen.

Sie schlägt vor, das Dreiperiodensystem Thomsens durch eine neue Epochengliederung zu ersetzen: die Zeit der Jäger, Fischer und Sammler; die Zeit der Bauern; sowie die indoeuropäische Zeit. Dabei gibt sie zu bedenken, dass die archäologischen Funde der beiden frühen Epochen auch so interpretiert werden können, dass es noch keine patriarchale, sondern eher eine gleichberechtigte Gesellschaftsstruktur gab. Als Beispiel führt sie die etwa 7000 Jahre alte Vinča-Kultur Südosteuropas an. Und angesichts der sehr realistischen Proportionen der 30 000 Jahre alten Venus von Willendorf argumentiert sie, dass die Künstler stark übergewichtige Frauen wohl tatsächlich gesehen haben müssen. Dies scheint zumindest nicht zu einem harten, entbehrungsreichen Leben zu passen und wirft erneut die Frage nach der damaligen Frauenrolle auf.

In ihrer Argumentation nimmt Bojs oft Bezug auf die Arbeiten der litauisch-amerikanischen Prähistorikerin Marija Gimbutas (1921–1994). Auch sie vermutete, dass ursprünglich ein höheres Maß an Geschlechtergleichheit bestanden habe und patriarchale Strukturen erst später durch die indogermanische Einwanderung entstanden seien. Doch vieles, so Bojs, lasse sich aufgrund der unklaren archäologischen Quellenlage nicht eindeutig beurteilen. Daher stellt sie häufig alternative Erklärungsansätze einander gegenüber und legt sich bei der Frage, welche Gesellschaftsform in den frühen europäischen Kulturen denn nun dominiert habe, nicht fest. Sie argumentiert differenziert und erliegt so auch nicht der Versuchung, scheinbar ins Bild passende, sensationelle Funde wie den einer angeblich mittelalterlichen »Schildmaid« in Birka, einem Handelszentrum der Wikinger, unkritisch zu übernehmen.

Dass geschichtliche Interpretationen immer auch von ihrer jeweiligen Entstehungszeit geprägt sind, ist mehr als nur eine Binsenweisheit. Bojs zeigt in ihrem Buch eindrücklich, wie Deutungen im 19. und 20. Jahrhundert von nationalistischen, rassistischen und patriarchalen Einflüssen beeinflusst wurden. Gleichzeitig gilt aber auch: Die Fragen, die Bojs selbst an die Geschichte stellt, sind ebenso deutlich von Vorstellungen und Werten des 21. Jahrhunderts geprägt.

Insgesamt legt die Autorin ein gründlich recherchiertes und gut lesbares Buch vor, das sich an historisch und anthropologisch interessierte Leser wendet. Vorkenntnisse sind nicht notwendig.

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