Tor zur Gesundheit
Zahnerkrankungen sind heutzutage weit verbreitet. So leiden in den Industrienationen 60 bis 90 Prozent der Schulkinder an Karies. In Deutschland betrifft Karies sogar 15 Prozent der unter Dreijährigen. Das sind erschreckende Zahlen, bedenkt man, welch verheerende Auswirkungen Zahnerkrankungen auf den gesamten Körper haben können. Steven Lins Gesundheitsratgeber verfolgt daher einen ganzheitlichen Ansatz: Wer sich um die Gesundheit seiner Zähne kümmert, schützt zugleich auch Knochen, Darm, Immunsystem und Gehirn.
Für Lin – Zahnarzt in Sydney mit ergänzenden Ausbildungen in Biomedizin, Ernährung und Fitness – ist der Mund das Tor zur Gesundheit. Weil wir uns nicht mehr richtig ernähren, schreibt er, entwickelten sich unsere Kiefer nicht mehr richtig. Dies führe zu einer Epidemie von Zahnfehlstellungen nebst eingewachsenen (Weisheits-)Zähnen – mit wiederum bedeutenden Auswirkungen auf andere Schädelpartien. So könne es zu einer Schwächung der Atemwege kommen, die zu mehr Mund- statt Nasenatmung führe. Und sei unsere Versorgung mit Sauerstoff erst einmal gestört, ergäben sich leicht weitere Probleme, vom Schnarchen über die Aufmerksamkeitsdefizitstörung bis hin zum Herzleiden. Der Kiefer nimmt somit Einfluss auf fast jedes Organ im Körper.
Auf die Nahrung kommt es an
Zahngesundheit ist weniger eine Frage der Zahnpflege denn der Ernährung, ist der Lektüre zu entnehmen. Wer »mundum gesund« bleiben will, muss seine Lebens- und Ernährungsweise hinterfragen. Ebenso auf den Prüfstand gehört das Gesundheitssystem: Es darf nicht länger aufgespalten werden in »geschlossene Abteilungen«, in denen der Zahnarzt nur den Kauapparat behandelt, der Gastroenterologe den Magen, der Neurologe das Gehirn und so weiter. Alles, was gut für den Mund sei, betont Lin, tue auch dem restlichen Körper gut: »Je gesünder Ihr Mund und Ihr orales Mikrobiom, desto gesünder Ihr Verdauungstrakt, Ihr Immunsystem und Ihr gesamter Körper.«
Fakt ist: Hoch industrialisierte Staaten sind zugleich Hochburgen der Zahnerkrankungen einschließlich Zahnfehlstellungen. Zudem werden ihre Bürger vermehrt heimgesucht von Verdauungsproblemen (Morbus Crohn, Reizdarmsyndrom), Autoimmunerkrankungen (Zöliakie, multiple Sklerose, Rheuma) sowie Störungen des Zentralnervensystems (ADHS, Demenz). Fakt ist auch, dass es für viele dieser Erkrankungen klare Hinweise darauf gibt, dass sie entscheidend von der Ernährung beeinflusst werden.
Auffälligerweise leiden Menschen aus Epochen beziehungsweise Kulturkreisen mit eher traditioneller Ernährung deutlich weniger unter Zahnerkrankungen als solche aus modernen Industriegesellschaften. Das zeigen nicht nur die fossilen Gebisse steinzeitlicher Jäger und Sammler, sondern etwa auch die von altägyptischen Mumien. Selbst Untersuchungen aus jüngerer Zeit, etwa bei australischen Aborigines oder arktischen Inuit, belegen eine geradezu sensationelle Zahngesundheit, sofern noch eine traditionelle Ernährungsweise vorliegt.
Offenbar sind viele Erkrankungen der Mundhöhle, wie wir sie heute kennen, eine Begleiterscheinung industriell verarbeiteter Nahrung. Bei den etwa 600 000 in den USA angebotenen Lebensmitteln hat sich beispielsweise seit 1965 der Anteil industriell verarbeiteter Produkte auf mittlerweile 70 Prozent erhöht. Lin erklärt plausibel und detailliert, welch fatale Auswirkungen dieser Trend hat.
Frühwarnsystem für Gesundheitsprobleme
Das Buch hat drei Teile und einen ausführlichen Anhang mit Anmerkungen sowie einem Rezept- und Stichwortverzeichnis. Im Einführungsteil erläutert der Autor, warum Zähne ein so vorzügliches Frühwarnsystem für gravierende Gesundheitsprobleme sind. Eindrucksvoll legt er dar, was über evolutionäre Vorgaben, genetische und epigenetische Einflüsse sowie über fehlende Vitamine und die Mitwirkung von Bakterien bekannt ist. Im mittleren Teil referiert er, warum das, was wir heute verzehren, oft krank macht. Im Schlussteil führt Lin sodann aus, wie wir »essen sollten, damit Mund, Körper und Geist gesund bleiben«. Das letzte Kapitel ist zugleich das längste, da es einen »40-Tage-Ernährungsplan« mit entsprechenden Rezepten enthält, inklusive Beschaffungs- und Zubereitungstipps.
Lins »zahngesunde Ernährung« folgt vier Leitprinzipien: (1) Kiefer, Knochen und Atemwege stark und gesund halten, (2) den Mund mit allen notwendigen Nährstoffen versorgen, insbesondere fettlöslichen Vitaminen, die etwa für den Kalziumstoffwechsel gebraucht werden, (3) das Mikrobiom in Mund und Darm unterstützen, (4) positive epigenetische Effekte vermitteln.
Was die ersten drei Prinzipien anbelangt, ist die medizinische Evidenz geradezu erdrückend. Beim vierten Prinzip dagegen sind Belege eher rar. Es erscheint zwar naheliegend, dass bestimmte Nährstoffe (oder ihr Fehlen) die Methylierung der DNS fördern und somit Genaktivitäten regulieren können – und dass sich dieser Prozess auf die körperliche Gesundheit auswirkt. Jedoch bleibt umstritten, ob so genannte Bioprodukte positive epigenetische Effekte vermitteln und industrielle Erzeugnisse eher nicht. Auch verrät uns der Autor nicht, warum die Lebenserwartung immer weiter steigt, wenn wir uns doch immer ungesünder ernähren. Dafür räumt er argumentationsstark und unterhaltsam mit einigen besonders hartnäckigen Ernährungsmythen und falschen Diätplänen auf.
Das Buch führt jedenfalls »mundum« die Zahnmedizin, die Medizin sowie die Ernährungswissenschaft konsequent zusammen. Seiner komplexen Diagnose stellt Steven Lin eine ebenso einfache wie effektive Methode zur Seite, um die Gesundheit des Munds und des gesamten Körpers zu unterstützen.
Schreiben Sie uns!
Beitrag schreiben