»Die größte Erfindung der Menschheit«
Wie kann man ein menschenähnliches Wesen herstellen? Solche Gedanken schossen dem Schweizer Naturphilosophen Paracelsus um das Jahr 1538 durch den Kopf. In seinem Werk »De natura rerum« wurde er konkret: Einen Homunculus könne man durch Ausbrüten von Sperma in Pferdemist züchten, schrieb er. Paracelus war wohl nicht der erste Mensch, der sich überlegt hat, wie man mit den zur Verfügung stehenden Mitteln etwas schaffen kann, das so ähnlich ist wie man selbst.
Gespräche mit einer Maschine
Heute gipfeln diese Ideen in der Schaffung von künstlicher Intelligenz, gerne auch knackig als KI bezeichnet. Heute ist KI in aller Munde. Gerade im Alltag wundert man sich manchmal, wie weit die Technologie schon ist: Man unterhält sich mit Alexa, dem Lautsprecher eines großen Online-Warenhändlers. Auf Fragen gibt der Algorithmus erstaunlich dezidierte Antworten. Oder man übergibt automatisierten Übersetzungsprogrammen einen deutschen Text und erhält wenige Sekunden später eine qualitativ gar nicht schlechte Übersetzung in fast jeder beliebigen Sprache.
Aber wie funktioniert die dahintersteckende KI-Technologie, und was sind die mathematischen Grundlagen? Diese Fragen beantwortet der KI-Forscher und Wissenschaftsjournalist Philip Häusser in seinem Buch »Natürlich alles künstlich«. Häusser gibt zuerst einen schönen Überblick über die Geschichte der KI. Für ihn ist deren Geburtsstunde das Jahr 1950, als das »Summer Research Project on Artificial Intelligence« realisiert wurde. Die Teilnehmer versuchten unter anderem herauszufinden, wie man einen Computer programmieren muss, um ihm natürliche Sprache beizubringen.
Grundlage der modernen KI sind inzwischen neuronale Netze, bestehend aus künstlichen Neuronen, die aus dem biologischen Vorbild der Nervenzelle entstanden. Die kleinen digitalen Recheneinheiten können mehrere Eingaben verarbeiten und entsprechend über ihre Aktivierung reagieren. Ein Verbund daraus, die neuronalen Netze, lassen sich darauf trainieren, komplizierte mathematische Funktionen zu lernen.
Obwohl die Theorie dazu schon länger bekannt war, fehlten die technologischen Möglichkeiten, solche Programme umzusetzen. Doch um das Jahr 2012 gab es einige Durchbrüche: Der Stand der Forschung war reif für die Entstehung von neuronalen Netzen. Heute analysieren die Netzwerke gewaltige Datenmengen wie Bilder oder Videos extrem präzise – weitaus genauer, als der Mensch dazu jemals in der Lage wäre.
Häusser ist selbst Wissenschaftler und hat seine Doktorarbeit über KI geschrieben. Das merkt man den folgenden Kapiteln des Buchs deutlich an. Man braucht einen klaren Kopf und logisch-mathematisches Verständnis, um seinen Ausführungen in die Welt der Algorithmen zu folgen. Etwa wenn es darum geht, zu verstehen, was bei einer so genannten Ballungsanalyse (einem Clustering) passiert. Diese Methode erlaubt es, einen Computer so zu programmieren, dass er maschinelles Lernen selbstständig betreibt.
Mathematischer wird es im Kapitel über neuronale Faltungsnetzwerke. Hier geht es darum, die Algorithmen noch effizienter arbeiten zu lassen, indem man einzelne Schichten der künstlichen Neurone durch Filter trennt und sie die Datenströme analysieren lässt. So kann man etwa Gesichter einer Menschenmenge auf einem Bild sehr genau trennen und sie einzeln weiterverarbeiten. Häussers Erklärungen, wie solche Netzwerke funktionieren, grenzen an akademische Ausführungen, auch wenn das Buch fast ohne mathematische Formeln auskommt.
Leider verliert der Autor nur wenige Sätze am Ende des Buchs dazu, wo KI schon in unserem Alltag angekommen ist. Dennoch wird es für Laien auf den letzten Seiten noch mal spannend. Denn hier geht es um die Frage, wo uns die KI hinführen wird: Wird KI eine große Job-Vernichtungsmaschine? Werden wir Systeme schaffen, die wir eines Tages selbst nicht mehr beherrschen können? Werden Computer die Herrschaft über die Erde erlangen?
Häusser hütet sich davor, allzu konkrete Vorhersagen zu treffen. Die Leserinnen und Leser sollen ihre eigenen Schlüsse aus dem ziehen, was sie gelesen haben. Wenn man hört, was KI vermeintlich alles meistert, neigt man vielleicht dazu, sie zu überschätzen, gibt der Autor zu bedenken. Heute gibt es fast ausschließlich Korrelationsmaschinen. Aber es seien keine übernatürlichen Intelligenzen in Sicht, die der unseren überlegen wären, so Häusser weiter. Wirklich intelligente Systeme müssen erst noch lernen, wie man Beobachtungen in den richtigen Kontext einordnet, Entscheidungen trifft und daraus die richtigen Handlungen ableitet.
Für Häusser ist dennoch klar: KI sei die größte Erfindung, welche die Menschheit je gemacht habe, größer noch als der Buchdruck oder die Erfindung des Rads.
Schreiben Sie uns!
Beitrag schreiben