Provokante Ansichten eines Philosophen
Schon in seiner kulturpessimistischen Einleitung gibt der Philosoph Christoph Türcke die Marschroute seines Werks »Natur und Gender« vor: den titelgebenden »Machbarkeitswahn«, bei dem wir die Natur nach Belieben zurechtbiegen wollen, in all seinen Facetten kenntlich zu machen. Angefangen bei scheinbaren Banalitäten wie Lärm- und Atemschutz, Physio- und Psychotherapien, Paralympics-Athleten, die ihren nicht behinderten Kollegen in nichts nachstehen, exzessiven Schönheitsoperationen bis zu Genmanipulationen am Menschen in der nahen Zukunft. Den Höhepunkt dieses Wahns macht Türcke in der LGBTI-Community aus, genauer gesagt bei Transpersonen.
Die Beziehung zwischen Mensch und Natur
Auf den folgenden gut 100 Seiten entfaltet er sehr ausschweifend und detailverliebt eine philosophische Geschichte der Natur-Mensch-Beziehungen mit einer Menge »name dropping«: von Platons »Weltschöpfungsmythos«, Hegels »Weltgeist« über Kants »Ding an sich« bis zu Niklas Luhmann – und immer wieder fällt Freud, der es Türcke besonders angetan zu haben scheint. All das unterlegt der Autor mit Erkenntnissen aus Mythologie, Religion, Hirnforschung und Biologie. Dabei weist er wiederholt auf die Entstehung des Lebens hin, angefangen bei Proteinen und den ersten Zellteilungen, die schließlich zur Zweigeschlechtlichkeit führten. Er betont vehement die biologischen Fakten der Zweigeschlechtlichkeit, die sich über Millionen Jahre als Erfolgsmodell manifestiert haben. Mit diesem Aufbau widmet er sich im zweiten Teil des Buchs der Dekonstruktion des Dekonstruktivismus, indem er die Thesen seiner Lieblingsfeindinnen Judith Butler und Donna Haraway, welche die Auflösung der Geschlechtergrenzen beziehungsweise der Grenzen zwischen Menschen, anderen Tieren und Maschinen beinhalten, genüsslich pointiert aufspießt.
Dabei verschont er natürlich auch die zeitgenössische Technik nicht, denn sie mache uns zu »Cyborgwesen«. Das Smartphone nennt Türcke einen Phallus und dessen Verlust eine Kastration. Er beklagt, dass Menschen, insbesondere Kinder, sich zu wenig bewegen und nur noch auf Displays starren würden. Sportliche Betätigung, bei der man Musik oder Hörbücher höre, sei jedoch ebenfalls schlecht für den Körper – und durch Fitnesstracker verliere der Mensch sein Körpergefühl.
Tattoos und Piercings versteht der Autor nicht als Mode (obwohl es in diesen Bereichen ja sehr wohl auch Moden gibt), sondern interpretiert sie als »dosierte Körperverletzung« zur Ichbildung, die stets »etwas Einschneidendes« habe. Türcke sieht damit nach Descartes' »Ich denke, also bin ich« ein neues Zeitalter gekommen: »Ich fühle, also bin ich.« Wem Tattoos und Piercings nicht mehr reichen, greife demnach zum nächsten Schritt, der »Geschlechtsbeschneidung«, womit der Autor wieder bei seinem Kernthema, Gender, ankommt.
Er führt aus, wie viel mehr Kinder und Jugendliche sich in den letzten Jahren als Trans fühlen, outen und sich einer Hormonbehandlung und sogar Operationen unterziehen. Wenn diese jungen Menschen von Ärzten oder Medien zu schwer wiegenden Entscheidungen getrieben werden, deren Folgen sie nicht abschätzen können, ist das zu verurteilen. Türcke sieht die ansteigende Zahl von Gender-Dysphorien nur als Ergebnis eines weltweiten Internettrends. Er betrachtet das Phänomen nicht von der anderen Perspektive: Könnte es nicht sein, dass mehr Aufklärung zu mehr Selbsterkenntnis und Akzeptanz führt, wodurch es mehr Outings und mehr Behandlungen gibt?
Nicht ganz überraschend folgte nach Veröffentlichung des Buchs ein Shitstorm in sozialen Medien wie Instagram, in denen dem Autor Transfeindlichkeit vorgeworfen wurde. Kurz darauf erschien eine Entschuldigung der Social-Media-Redaktion und ein Statement des Lektorats von C.H.Beck, in dem erklärt wird, Christoph Türcke behaupte »an keiner Stelle die Unnatürlichkeit von Geschlechtsumwandlungen«.
Das mag sein. Sehr wohl transfeindlich ist aber, wie der Autor von oben herab aus einem philosophischen Elfenbeinturm über die betroffenen Personen urteilt. Es wirkt, als sehe er sie als bemitleidenswerte psychisch Kranke und zöge nicht einmal in Betracht, dass sie vielleicht mit ihrem Empfinden, im falschen Körper geboren zu sein, Recht haben könnten. Es hat den Anschein, als habe er seine Expertise nur aus zweiter Hand und womöglich nie mit einem seiner Untersuchungsobjekte ein Wort gewechselt. Türcke geht sogar so weit und zieht eine Parallele zur Reichsbürgerbewegung: Beide Gruppen definieren sich durch Ablehnung ihrer angeborenen Identität, einmal des Körpers und einmal der Staatszugehörigkeit.
Auf den versöhnlichen letzten Seiten sympathisiert der Verfasser mit der Bewegung »Fridays for Future«, weil auch sie gegen »Wachstumszwang und Machbarkeitswahn« sind. Er bekräftigt, die Natur lasse sich niemals endgültig zähmen, sie sei kein Konstrukt des Menschen, denn dieser ist ja selbst nur ein Teil der Natur. Das Nachwort entstand zu Beginn der Corona-Pandemie, durch die, wie Türcke betont, die Menschen wieder lernen müssten, Demut vor der Natur zu bekommen. Gerade angesichts der Krise hofft er auf »Umkehr, Insichgehen, Umdenken« in den Machtzentren. Bei dieser Hoffnung bin ich ganz bei ihm.
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