Gutachter mit Mission
Max Steller ist einer der angesehensten psychologischen Gerichtsgutachter in Deutschland. Nach seiner Emeritierung rechnet der ehemalige Professor für forensische Psychologie nun mit der hiesigen Strafverfolgung ab und lässt dabei kaum einen prominenten Fall aus. Er selbst diente als Gutachter bei zahlreichen bekannten Verhandlungen, etwa im Fall Pascal oder bei den Vergewaltigungsvorwürfen gegen den Talkshow-Moderator Andreas Türck.
Vor dem Hintergrund dieser und weiterer Beispiele, in denen Angeklagte offenbar zu Unrecht vor Gericht standen, mahnt er ein juristisches Grundprinzip an: Verdächtige und Angeklagte haben so lange als unschuldig zu gelten, bis ihre Schuld erwiesen ist. Reicht die Beweislage nicht aus, können Richter, Verteidigung oder Staatsanwaltschaft ein psychologisches Gutachten zur Glaubhaftigkeit einer Aussage einholen, sei es zu der des Angeklagten, eines Zeugen oder des mutmaßlichen Opfers. Der Gutachter beurteilt darin anhand seines Fachwissens, ob die Aussage hinreichend viele "Realkennzeichen" enthält. Das sind Merkmale wie Detailreichtum, die häufiger in Berichten von wahren Erlebnissen vorkommen als in erfundenen Geschichten. Außerdem prüft er, ob die Aussage auch anders als durch eigenes Erleben hätte zu Stande kommen können, etwa durch Suggestion.
Reformvorschläge vom Altmeister
Steller erläutert anhand mehrerer Fälle, wie er als Gutachter Ermittlungen oder Strafverfahren auf das richtige Gleis zu setzen vermochte – so bei den Wormser Missbrauchsprozessen, einem der größten Skandale der deutschen Rechtsgeschichte, bei dem 25 Personen zunächst des Kindesmissbrauchs angeklagt und später freigesprochen wurden. Seine Reformvorschläge scheinen dabei eigentlich selbstverständlich, etwa Zeugenaussagen auf Video aufzunehmen, um sie später im Wortlaut prüfen zu können. Doch ein solches Vorgehen ist eben keineswegs vorgeschrieben. Steller selbst trug dazu bei, dass nach den Wormser Prozessen Gerichte überhaupt dazu verpflichtet wurden, Gutachten auf ihre Qualität zu prüfen.
Laien werden an dem entlarvenden Blick hinter die Kulissen der Justiz ihre Freude haben. Wer sich aber mit der Forschung zur so genannten Lügendetektion schon einmal beschäftigt hat, könnte sich von einem der großen deutschen Rechtspsychologen noch mehr erhoffen, etwa eine kritische Diskussion der Aussageanalyse selbst und einen ausgewogenen Überblick über weitere Verfahren. Denn über Alternativen verliert der Autor nicht viele Worte: Ausführlich erläutert er allein, warum die Polygrafie mit dem Kontrollfragentest nicht zuverlässig ist; den Tatwissentest hingegen und die Messung von Hirnaktivität tut er ab, ohne deren Chancen und Probleme zu erörtern. Unerwähnt bleiben auch viele Befunde, wonach diese Verfahren in Laborstudien mindestens vergleichbare Ergebnisse liefern wie psychologische Gutachten.
Das Buch richtet sich damit weniger an Fachleute als an ein breites Publikum. Der missionarische Duktus dürfte das Ergebnis von Stellers langjähriger Erfahrung mit einer Praxis sein, die der Wahrheitsfindung allzu oft im Weg steht. Dank der kompetenten Einblicke lohnt sich die Lektüre jedoch auch für jene, die vom Altmeister der Rechtspsychologie mehr erwartet hatten.
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