Buchkritik zu »Nomaden der Lüfte«
Man könnte meinen, Vögel seien in Mode gekommen. Erst Christian Moullecs Bildband "Mit den wilden Gänsen fliegen" und jetzt das Buch zum Film "Nomaden der Lüfte" (Kinostart 4. April 2002) von Jacques Perrin. Die allgemein zunehmende Begeisterung für unsere gefiederten Freunde ist verständlich: Es geht um eines der geheimnisvollsten und beeindruckendsten Phänomene der Tierwelt überhaupt, den Vogelzug. Der Franzose Jacques Perrin überzeugte bereits 1996 durch seinen mehrfach preisgekrönten Film "Mikrokosmos" über das Leben von Insekten auf einer Wiese. Mit "Nomaden der Lüfte" realisierte er eine der aufwendigsten Tierdokumentationen aller Zeiten. Seit 1997 haben acht Teams in mehr als 25 Ländern rund um den Globus etwa vierzig verschiedene Zugvogelarten gefilmt. Perrins gleichnamiges Buch zeigt in fantastischen Bildern fast alle Aspekte eines Zugvogellebens – wohlgemerkt hauptsächlich aus der Vogelperspektive. Fünfzig Milliarden Vögel ziehen jedes Jahr von Kontinent zu Kontinent, überwinden dabei Meere und Gebirge und legen Strecken von einigen tausend bis zu 20000 Kilometern zurück. So entsteht ein Netz aus unzähligen Flugrouten, das den gesamten Globus überspannt. Woher wissen die Langstreckenflieger, wann sie aufbrechen müssen und welchen Weg sie einzuschlagen haben? Folgen sie etwa einer inneren Uhr, richten sie sich nach topografischen Landmarken, den magnetischen Polen oder den Gestirnen? Jacques Perrin schreibt dazu: "Tiere erben das Wissen von ihren Vorfahren … Nach wenigen Monaten finden sie Zugrouten, die sie nie zuvor benutzt haben." Peter Berthold, der Leiter der international renommierten Vogelwarte Radolfzell am Bodensee, der mit Hilfe modernster Satelliten-Telemetrie zahlreiche Vogelwanderungen verfolgt hat (Spektrum der Wissenschaft 6/2002, S. 52), kann diesen Befund bestätigen: Das Zugverhalten ist genetisch bedingt und – Vögel besitzen das Potenzial sowohl für das Ziehen als auch für das Nichtziehen. Durch Selektion ergibt sich daraus die gesamte Palette von phänotypischen Standvögeln über teilziehende Populationen bis hin zu ausschließlich wandernden Langstreckenziehern. Der französische Wissenschaftsjournalist und Autor Jean-François Mongibeaux, der die dreijährigen Filmarbeiten begleitete, verfasste für den vorliegenden Bildband einen gelungenen Text, der die faszinierenden Bilder auf hervorragende Weise ergänzt. Populärwissenschaftlich stellt er die verschiedensten Vogelarten mit ihren Besonderheiten vor. Vier Hauptkapitel vermitteln – gut verständlich – das ornithologische Wissen unserer Zeit: "In Gesellschaft der Gefiederten", "Im Takt des Flügelschlags", "Reisende durch Zeit und Raum" und "Die Eroberer unseres Planeten". Immer wieder bekommen aber auch mitwirkende Biologen, Tierpfleger, Tontechniker oder Kameraleute die Gelegenheit, ihre Erinnerungen und Eindrücke während der Dreharbeiten zu schildern. Mongibeaux verschont seine Leser mit lateinischen Artnamen und anderen allzu wissenschaftlichen Details. Unter der immer wiederkehrenden Rubrik "Wissenswertes" werden – ebenfalls leicht verdaulich – ornithologische Fakten genannt. Manch andere Textpassage mutet dagegen geradezu überschwänglich an. Ganzseitige Karten stellen abschließend die Routen ausgewählter Zugvogelarten von Europa bis Nordafrika, in Nord- und Südamerika, in Asien sowie rund um den Südpol vor. Versehen sind sie mit viel artspezifischem Hintergrundwissen in Steckbriefform. Kartenausschnitte informieren außerdem über ganzjährige Vorkommen, Verbreitungs- und Brutgebiete sowie über die Winterquartiere. Wie schon in "Mikrokosmos" verwöhnt Perrin uns mit eindrucksvollen, zum Teil sogar poetischen Bildern aus ungewöhnlichen Perspektiven. Der großformatige und schwergewichtige Band (immerhin 29 mal 35 Zentimeter und 2,7 Kilogramm) zeigt neben sensationellen Aufnahmen von Vögeln während des Fluges auch stillere Impressionen – Störche bei der Rast in der Libyschen Wüste, brütende Königspinguine auf den Falklandinseln, Schneegänse auf Futtersuche im Uferschlamm der französischen Atlantikküste. Dann wieder Interaktionen: ungewöhnliche Rituale und Tänze balzender Mandschurenkraniche, klappernde und schnäbelnde Weißstörche in der Normandie. Und immer wieder Vögel im Flug: allein, in typischer V-Formation oder als ungeordneter Trupp. Nur die Landschaften sind immer andere. Bilddoppelseiten wechseln ab mit beidseitig ausklappbaren Panoramaseiten – beinahe jede Aufnahme ist ein nie gesehenes Highlight. Fast wird es zu viel des Guten, wirkt beim Durchblättern ermüdend. Die Frage nach der Technik, die solche Bilder entstehen lässt, drängt sich auf. Und wird auch prompt im letzten Kapitel "Abenteuer Film" beantwortet. Nicht nur die Fotos wilder, frei lebender Vögel sind es, die uns begeistern. Vielmehr wurden die meisten der späteren Hauptdarsteller eigens für das Projekt aufgezogen. Die Eier stammten vornehmlich aus internationalen Vogelparks. Ausgefeiltes Equipment wie flugtaugliche und computergestützte Inkubatoren kam für den Transport und das Ausbrüten der Eier zum Einsatz. Für die Film- und Fotoarbeiten setzte man die unterschiedlichsten Luftfahrzeuge ein: neben Hubschraubern, Gleitschirmen, Segelflugzeugen auch Drachen, Heißluftballons und ferngesteuerte Modellflugzeuge. Jacques Perrin will berühren, Emotionen wecken. Das ist ihm mit großer Sicherheit und viel Gespür abermals gelungen. Doch sollten die wunderschönen Bilder nicht darüber hinwegtäuschen, dass seine Protagonisten es nicht leicht haben. Denn die Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen, sei es im Überwinterungsgebiet, im Sommerquartier oder auf der Rast, schreitet immer weiter voran. Zugvögel sind zwar in der Tat Nomaden der Lüfte; zum Überleben, zur Aufzucht ihrer Jungen und zur Nahrungsaufnahme sind aber selbst diese Anpassungskünstler auf Lebensräume am Boden und in und auf dem Wasser angewiesen. Hier stehen sie in direkter Konkurrenz zu uns Menschen. Und sogar in der Luft sind sie vielfältigen Gefahren ausgesetzt, denkt man nur an die steigende Anzahl von Windparks und Hochspannungsleitungen in unseren Landschaften. Selbst der namhafte Tierfilmer und Zoologe Heinz Sielmann, der das Geleitwort zum Buch schrieb, erwähnt diese Problematik leider mit keiner Silbe.
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