Ganz normal verrückt
Philippe Pinel, ein französischer Arzt und Psychiater, stellte Ende des 18. Jahrhunderts als junger Hochschullehrer ein weitverzweigtes System mit 700 Krankheitsdiagnosen auf. Sein Vorbild war der der schwedische Botaniker Carl Linné, der die Pflanzenwelt akribisch geordnet hatte. Als Pinel jedoch 1794 die Leitung des Pariser Nervenkrankenhauses Salpêtrière übernahm, reduzierte er sein System auf sieben Diagnosen.
Diese Anekdote erzählt Asmus Finzen in seinem Buch »Normalität«, in dem er sehr eloquent die »Kolonisierung des Normalen durch Diagnostik und Klassifikation« anprangert. Denn leider ist es nicht bei den sieben Diagnosen von Pinel geblieben. Eines der wichtigsten aktuellen psychiatrischen Klassifikationssysteme, das DSM-5 der Amerikanischen Psychiatrischen Gesellschaft, verzeichnet 374 Krankheiten und Störungen.
Drei Diagnosen pro Patient
Kein Wunder also, dass kaum noch ein Patient die psychiatrische Klinik mit weniger als drei Diagnosen verlässt. Häufigkeitsangaben in den Medien sind sogar so übertrieben, dass Finzens Kollege Klaus Dörner bei einer Auswertung von Medienberichten zu dem Ergebnis kam, jeder Deutsche müsse unter zwei bis drei psychischen Störungen leiden. Sind wir alle verrückt geworden?
Finzen bemängelt, die »wundersame Vermehrung an Diagnosen« habe nicht zu einem besseren Verständnis psychischer Störungen beigetragen, sondern vielmehr zu einer »Zersplitterung der psychiatrischen Diagnostik« und einer »Vermehrung der Unübersichtlichkeit« geführt. Er ist der Ansicht, dass Patienten mit einer kleineren Zahl von Diagnosen besser gedient wäre.
Darüber hinaus rät der Mediziner zu mehr Gelassenheit: Selbst schwere psychische Störungen wie die Schizophrenie seien in gewisser Weise »normal« – so wie andere schwere Krankheiten auch, etwa Krebs oder Schlaganfall: »Wenn jemand körperlich krank ist, würde niemand auf die Idee kommen, zu behaupten, der sei nicht normal«. Anders bei psychisch erkrankten Menschen, die schnell als unberechenbar und gefährlich gelten, gefördert durch Schlagzeilen wie »Mord im Wald: Irrer ersticht Joggerin«.
Dem Autor ist es ein Anliegen, gegen die Stigmatisierung von psychischen Störungen anzukämpfen und falscher Panik Aufklärung entgegenzusetzen. Der erfahrene Psychiater, Professor für Sozialpsychiatrie und ehemalige Klinikleiter hat ein gut lesbares Werk – eine Mischung aus Streitschrift und Ratgeber – verfasst, die sich psychisch erkrankten Menschen und ihren Angehörigen empfehlen lässt. Denn die Leser(innen) erfahren genau, welche Krankheitsbilder es gibt, wie psychiatrische Untersuchungen ablaufen, und dass ohne eine Vertrauensbeziehung zwischen Patient und Arzt leicht Fehler entstehen.
Ein Minuspunkt ist, dass man sich bei der Lektüre manchmal in die 1970er-Jahre zurückversetzt fühlt, in denen der inzwischen 79-jährige Psychiater seine wichtigsten wissenschaftlichen Anregungen erhielt. Zwar berücksichtigt er neue Daten, kaum aber neuere Theorien. Und anders als der Titel erwarten lässt, betrachtet er die Kategorie »Normalität« nicht tiefer gehend analytisch. Vielleicht liegt es an einer Tatsache, die der Autor selbst zugesteht: »Psychiater sind allenfalls Experten für das Unnormale, das Pathologische, das Kranke. Vom Normalen haben sie von ihrer Profession her keine Ahnung.«
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