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Lehrstück der Medizingeschichte

Ein Buch über H. M., den jungen Epileptiker und vielleicht berühmtesten Patienten der Hirnforschung – noch dazu geschrieben von einem Enkel des Chirurgen William Scoville, der H. M. im Jahr 1953 jene Hirnareale entfernte, in denen die Anfälle zu beginnen schienen. Das weckt auf jeden Fall Interesse.

Nach Meinung mancher Experten verstümmelte Scoville seinen Patienten, weil er ihm durch den Eingriff unwiderruflich die Fähigkeit nahm, neue Erinnerungen zu speichern. Anderen zufolge rettete er ihm das Leben, indem er dessen zunehmenden und medikamentös nicht kontrollierbaren Anfällen entgegenwirkte. H. M., der eigentlich Henry Gustav Molaison hieß, lebte nach der Operation bis zu seinem Tod im Dezember 2008 noch mehr als 50 Jahre lang – und zwar in "ewiger Gegenwart". Er glaubte auch Jahrzehnte später, er befinde sich im Jahr 1953 und sei 27 Jahre alt. Hielten ihm die Forscher einen Spiegel vor, realisierte er einen Moment lang, wie es sich wirklich verhielt, um es kurz darauf wieder zu vergessen.

Mittels MRT aufgedeckt

Jedes neurowissenschaftliche Lehrbuch verweist auf H. M., um die Bedeutung des Hippocampus für die Gedächtnisbildung herauszustreichen. Die erste Veröffentlichung Scovilles (1906–1984) über diesen und weitere Patienten erschien 1957. Gemeinsam mit der Neuropsychologin Brenda Milner stellte er darin gemäß seinen Aufzeichnungen dar, welche Teile der medialen Schläfenlappen er entfernt hatte. Erst bei einer Untersuchung im Magnetresonanztomografen 1997 kam heraus, dass die Verletzung etwas anders aussah als von Scoville beschrieben. Post mortem entdeckte der Anatom Jacopo Annese zudem eine Schädigung innerhalb des linken Stirnlappens. Damit setzte eine vom Autor ausführlich geschilderte Kontroverse zwischen den beteiligten Forschern ein.

Das Buch beschreibt deren Intrigen und Machtkämpfe. So sind sieben Kapitel mit "Secret Wars" betitelt. Der Leidtragende war H. M., der als Spielball der Wissenschaftler dargestellt wird. Selbst von angeblichen Hautverbrennungen zu Forschungszwecken ist die Rede.

Im Zentrum stehen Dittrichs Großvater Scoville sowie die 2016 verstorbene Neuropsychologin Suzanne Corkin. Diese untersuchte H. M. gemeinsam mit dem Chirurgen. Laut Dittrich soll sie versucht haben, die Veröffentlichung von Anneses Befunden zu verhindern.

Der Autor charakterisiert sowohl Scoville als auch Corkin als skrupellos und machtbesessen. Seinen Großvater, der in der Publikation von 1957 sein Vorgehen als "freiheraus experimentell" bezeichnete, beschreibt er als wenig theoriegeleitet, mit anderen Worten: als wild herum operierenden Mediziner. Scovilles Spitzname unter Kollegen lautete denn auch "Wild Bill". Tatsächlich fand er überhaupt keinen epileptischen Herd bei H. M. Dittrich zufolge könnte er auch das Gehirn seiner an Schizophrenie erkrankten Frau lobotomiert haben, bevor er sich scheiden ließ und eine jüngere heiratete.

Zahm dank Verstümmelung

Die Psychochirurgie – eine besonders in der Mitte des zurückliegenden Jahrhunderts, vor der Einführung von Psychopharmaka, eingesetzte Behandlungsform – diskutiert Dittrich ausführlich. Die Operateure trennten meist Teile des Stirnhirns vom restlichen Großhirn ab oder entfernten sie. Die Idee dazu kam dem Neurochirurgen Egas Moniz (1874–1955), als er 1935 den Internationalen Kongress für Neurologie besuchte. Am Eingang schüttelten die Schimpansen Becky und Lucy den Besuchern die Hände. Ihr Zahmsein wurde auf eine Stirnhirn­-Ablation zurückgeführt, eine Entfernung von Hirngewebe. Moniz übertrug die Methode auf psychiatrische Patienten, nachdem er zunächst versucht hatte, ein Loch in deren Schädel zu bohren und Alkohol hineinzuschütten. Er bekam dafür 1949 den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin. Tatsächlich hatte der Schweizer Arzt Gottlieb Burckhardt solche Eingriffe bereits 1891, also lange vor Moniz, an psychiatrischen Patienten vorgenommen, worauf Dittrich hinweist. Burckhardt stellte sie allerdings ein, nachdem ein Patient verstorben war.

Der Autor bezeichnet H. M.s Operation als Lobotomie, was in mehrfacher Sicht falsch ist. Erstens durchtrennte Scoville das Gewebe nicht, sondern entfernte es. Zweitens entnahm er nicht den ganzen Schläfenlappen, sondern nur dessen innere Teile. Drittens ist der Ausdruck üblicherweise Eingriffen im Bereich des Stirnhirns vorbehalten. Zwar behandeln Mediziner noch heute manche Patienten, die unter einer schweren und medikamentös nicht einstellbaren Epilepsie leiden, mit dieser Methode. Die Operation von H. M. bleibt aber nahezu einzigartig, da sie in beiden Hemisphären vorgenommen wurde. Heute beschränkt man sich auf eine, um komplette Amnesien zu vermeiden (die Ärzte bereits um 1900 bei Menschen mit beidseitiger Schädigung des Hippocampus bemerkt hatten).

Unzulässige Schlussfolgerungen

Bis heute beruht die Bedeutung des Falls auf der von Scoville und Milner formulierten Behauptung, die Entfernung des Hippocampus sei Ursache der chronischen Amnesie – und somit sei dieses Hirnareal die Gedächtnisstruktur par excellence. Obwohl die Bedeutung des Hippocampus für die Gedächtnisbildung sicher zentral ist, treten ähnliche Amnesien auch nach Schädigungen im Zwischenhirn auf. Darüber hinaus haben schon frühere Neurowissenschaftler darauf hingewiesen, dass es nicht zulässig sei, von einem Funktionsausfall nach Schädigung einer Hirnstruktur auf die Aufgabe dieser Struktur im gesunden Gehirn zu schließen. Ein so umfassender Eingriff, wie er bei H. M. vorgenommen wurde, schädigt auch zahlreiche hin- und wegführende Fasern.

Zudem war H. M.s Hirngewebe infolge der Epilepsie vermutlich bereits vor der Operation geschädigt, und er benötigte zeitlebens Antiepileptika und andere Medikamente, die das Gehirn ebenfalls beeinträchtigt haben könnten. Darüber hinaus ist es vorstellbar, dass die geistige Leistungsfähigkeit des Mannes im Lauf des Lebens abnahm, lernte er doch mehr als 50 Jahre lang praktisch nichts dazu. Ein Intelligenztest einige Jahre vor seinem Tod ergab einen IQ von 83, das ist deutlich unterdurchschnittlich.

Gezänk um Hirnschnitte

Dittrichs detaillierte Ausführungen über H. M.s Anatomie machen klar, dass möglicherweise zu viel in den Fall hineingelesen wurde. Diese Ansicht teilt auch Neurowissenschaftler Steven Rose, der in der britischen Tageszeitung "Guardian" schrieb, man könne wohl nicht mehr aus den Hirnschnitten des Patienten herauslesen als aus denen von Wladimir Iljitsch Lenin oder Albert Einstein. Es sei deswegen an der Zeit, ihm und seinem Gehirn ein würdiges Begräbnis zuteil werden zu lassen.

Statt sanfter Ruhe gab es jedoch viel Gezänk um die Forschungsergebnisse, wie Dittrich schildert. Corkin – eine Kindheitsfreundin von H. M.s Mutter – soll den Patienten wie eine Glucke bewacht und nach dem Tod seiner Eltern dafür gesorgt haben, dass ein ihr genehmer Mensch, der alle Experimente bewilligte, die Vormundschaft erhielt. Video- und Audioaufnahmen von H. M. ließ sie nicht zu. Selbst der berühmte Gedächtnisforscher Endel Tulving durfte ein Gespräch mit dem Mann nicht aufzeichnen, was er mit "Das ist einfach albern" kommentierte. Dittrich führt aus, Corkin habe ihm in einem Interview gesagt, sie werde die von ihr im Institut erhobenen Daten zu H. M. schreddern lassen. Nachdem Mitglieder der Memory Disorders Research Society die Aussage anzweifelten, belegte er sie mit einer Tonbandaufnahme.

Das englischsprachige Buch, an dem Dittrich nach eigenen Angaben sechs Jahre lang arbeitete, ist kurzweilig und porträtiert eine Vielzahl bekannter Neurowissenschaftler. Neben vielem bislang Unbekanntem über H. M.s Leben und Umfeld enthält es allerdings auch einige Abschweifungen, etwa dass in Milners Kindheitsgarten Rittersporn gewachsen sei. Der Schreibstil ist gewöhnungsbedürftig: Steven Rose beschrieb ihn als "blumigen amerikanischen Stil, der für strenge englische Ohren unangenehm klingt". Aber vielleicht sind es auch die unerwarteten Machtspiele der beteiligten Forscher, die manchem Leser Magenschmerzen bereiten.

Anmerkung der Redaktion: Eine deutsche Übersetzung des Buchs ist im Oktober 2018 unter dem Titel "Der Patient H. M. – Eine wahre Geschichte von Erinnerung und Wahnsinn" im Herbig Verlag erschienen.

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