Rom und die Bogenwaffe
Beim Stichwort »römisches Heer in der Antike« denken die meisten an Legionäre mit Helmen, rechteckigen Schilden, langen Speeren und Kurzschwertern. Diese gängige Vorstellung, sicher auch von den »Asterix«-Comics geprägt, stellt die schwere Infanterie in den Mittelpunkt. Sondereinheiten der römischen Armee wie dromedarii (Kamelreiter), baleares (Steinschleuderer) oder sagittarii (Bogenschützen) hingegen werden als exotische Randerscheinungen wahrgenommen. Schon die Römer selbst hatten sie als auxiliarii (Hilfstruppen) bezeichnet. Umso erstaunlicher die Materialfülle zu Bogenschützen im römischen Heer, die Holger Riesch, ein ausgewiesener Kenner der Materie, in diesem Buch zusammengetragen hat.
Im Gegensatz zur weit gehend standardisierten Ausrüstung der römischen Legionäre gab es »den« römischen Bogenschützen nicht. Neben regionalen Unterschieden, weil die in römischen Diensten stehenden Söldner ihre jeweiligen lokalen Traditionen einfließen ließen, waren die tödlichen Distanzwaffen (vor allem die Reflexbogen) einer technischen Weiterentwicklung unterworfen. Anfangs griffen die Römer hier auf altorientalische und griechische Vorbilder zurück; später kamen germanische und keltische, vor allem aber skythisch-sarmatische und hunnische Elemente aus Zentralasien dazu. Die entsprechende Bogenform wurde explizit als scythicus arcus bezeichnet. Um die Entstehung dieser Geräte und ihren Weg ins römische Waffenarsenal aufzuzeigen, holt der Autor geografisch weit aus und präsentiert mögliche Vorläufer ebenso wie zeitgenössische Vorbilder entlang der Seidenstraße bis ins heutige China. Die Rolle der Bogenwaffe beim mächtigen Rivalen Roms im Osten, dem Sassanidenreich, das besonders viele bildliche Darstellungen reitender Bogenschützen hinterlassen hat, nimmt in dem Buch breiten Raum ein. Natürlich stellt Riesch auch die römischen Belege selbst vor, obgleich hier die Quellenlage deutlich schlechter ist.
Unbeständiges Material
Das Thema schließt natürlich Ausrüstungsgegenstände wie Köcher, Handschuhe, Daumenringe oder Unterarmschützer ein, denen in ihren zahlreichen Varianten vor allem die abschließenden Kapitel gewidmet sind. Originalwaffen und Zubehörteile haben sich aufgrund ihres überwiegend organischen Materials kaum erhalten; eine der wenigen Ausnahmen hiervon ist der ausführlich vorgestellte Bogen von Baghouz am Euphrat. Lediglich die beinernen Beschläge an den Bogenenden und die metallenen Geschossspitzen haben vergleichsweise zahlreich die Jahrtausende überstanden. Ein Großteil der Erkenntnisse stützt sich deshalb auf zeitgenössische bildliche Darstellungen, denen man aber so gut wie nie exakte bautechnische Details entnehmen kann und bei denen nicht einmal gesichert ist, ob sie die Proportionen der abgebildeten Waffen immer richtig wiedergeben. Daraus abgeleitete Rekonstruktionen sind daher stets mit Unsicherheiten belastet, lassen sich aber mithilfe der experimentellen Archäologie auf Funktionalität und Effizienz prüfen, wie der Autor an ausgewählten Beispielen zeigt.
Minutiös präsentiert Riesch die Typen und Entwicklungsreihen der original überlieferten Pfeilspitzen, die sich übrigens nicht immer eindeutig von Speerspitzen unterscheiden lassen. Teils sind sie römisch, teils stammen sie von Gegnern des Imperiums. In diesem Zusammenhang widmet sich ein Kapitel den metallurgischen und schmiedetechnischen Aspekten der überkommenen Projektile. Als besondere Gruppe stellt der Autor die Brandpfeile und ihre Wirkung vor, wobei er sich an Fundstücke und antike Quellentexte hält.
Antike Schriften zum Thema Pfeil und Bogen liefern leider keine Bauanleitungen, aber sie gewähren Einblicke beispielsweise in die Organisation bogenschießender Einheiten und in die taktischen Einsatzweisen ihrer Waffen. Auch hinsichtlich der Ausbildung und des Trainings der Bogenschützen erweisen sie sich als aufschlussreich, ebenso im Hinblick auf deren sozialen Status und ihre Rolle innerhalb der römischen Armee. Mithilfe der überlieferten Texte lassen sich zudem Mythen und Legenden aufdecken, die schon im Altertum kursierten, etwa über die verheerende Wirkung von Pfeilattacken oder über akrobatische Schießleistungen mancher Bogenschützen. So ist vom oströmischen Historiker Agathias Scholastikos (6. Jh. n. Chr.) die übertriebene Schilderung einer Belagerung im Gotenkrieg überliefert: »Mit starkem Zischen und unglaublicher Schnelligkeit kamen [die Pfeile] angesaust und zerschmetterten alles, selbst wenn sie auf Stein oder sonst etwas Schwerzerbrechliches trafen.«
Zwischen technische Beschreibungen streut Riesch immer wieder Originalzitate ein, sowohl von antiken Autoren als auch von neuzeitlichen Archäologen, was das Buch auflockert und das Lesevergnügen fördert. Die klare Gliederung in kurze, abgeschlossene Kapitel trägt dazu bei, den umfangreichen und kompakt präsentierten Stoff besser aufzunehmen. Im Schlusskapitel zieht der Autor nicht nur Bilanz, sondern zeigt auch bestehende Lücken der Bogen-Forschung auf.
Auch wenn der Autor bereits im Vorwort einschränkt, dass »viel häufiger, als einem lieb ist, mit hypothetischen Modellen gearbeitet werden« muss, so ist ihm dennoch (wie schon in seinem vorherigen Werk »Pfeil und Bogen zur Merowingerzeit«) eine geschlossene und umfassende Darstellung geglückt. Praktisch keinen einschlägigen Aspekt hat er unberücksichtigt gelassen; selbst die Behandlung von Pfeilschusswunden in der Antike bezog er ein. In überwiegend gut lesbarem Stil und aufgrund der angeführten Belege immer nachvollziehbar, schließt oder überbrückt er zumindest Lücken in der bisherigen Forschung und kann bei seinen Schlussfolgerungen auf seinen breiten einschlägigen Erfahrungsschatz zurückgreifen. Man darf gespannt sein, welches Werk der Autor als nächstes herausbringen wird: vielleicht zu den noch früheren Epochen der Assyrer in Mesopotamien und der Pharaonen am Nil? Denn der knappe Hinweis gleich im ersten Absatz des Buchs, wonach die »seit der Kolonisation durch die Griechen stattfindenden Waffentransfers aus dem östlichen Mittelmeer« die Nutzung des Kompositbogens im römischen Reich maßgeblich angestoßen hätten, macht neugierig auf die Anfänge dieser Entwicklung.
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