Be simple!?
Haben Sie sich schon einmal gefragt, warum anscheinend alles immer komplizierter wird, obwohl man überall der Einfachheit huldigt? Nehmen wir nur den technologischen Wandel: Apps und Software dringen in nahezu alle Lebensbereiche vor und erleichtern uns den Alltag. Vom Shopping über die Partnersuche bis zum autonomen Fahren: Einfachheit ist Trumpf! Und die simpelsten Anwendungen, wie das Wegwischen potenzieller Partner auf Tinder, sind in der Regel am erfolgreichsten. Trotzdem verkomplizieren sie die Dinge oft auf unerhörte Weise.
Der Kulturhistoriker Jérôme Brillaud, der als Französischlektor an der University of Manchester arbeitet, hat diesem Paradox ein Buch gewidmet. Es ist weder ein Ratgeber oder Wegweiser zum einfachen Leben noch eine große Theorie der Einfachheit. Die Betrachtungen des Autors mäandern wie ein langer Gedankenfluss durch die Ideengeschichte bis in unsere Zeit. So bringt er in einem Kapitel etwa das Kunststück fertig, in lockerer Folge Heideggers Existenzanalyse, die Technikverachtung des »Unabombers« Ted Kaszcynski, Donald Trumps Blödigkeit und das Erfolgsmodell der Einfachheit von Apple zu besprechen.
Zwei Dinge hebt Brillaud hervor: Erstens ist unser Leben – egal ob wir es etwa aus biologischer, politischer, kultureller oder philosophischer Perspektive betrachten – nicht per se einfach, sondern wird allenfalls dazu gemacht. Wer das einfache Leben sucht, muss selbst simplifizieren, ausblenden, entsagen und reduzieren. Der damit verbundene schmerzhafte Akt des Verzichts und des Verpassens hindert viele daran, wirklich einfach zu leben, so schön sie sich das in der Fantasie ausmalen mögen.
Vereinfachen ist auch riskant
Und zweitens: Vereinfachung birgt eine Gefahr. Nämlich die, aus Verdruss über jede Form des Verkünstelns und Raffinements in dumpfe Rohheit umzuschlagen. Für einfach im positiven Sinn steht von jeher der Arglose, Aufrichtige und Genügsame. Die Ideologisierung des Einfachen als natürliche Reinheit und Ursprünglichkeit, die es gegen die alles verkomplizierende Moderne zu verteidigen gilt, führte immer wieder in die Irre, ja wird bisweilen zur Rechtfertigung für Menschen verachtendes Tun benutzt.
All das zeichnet Brillaud in ruhigen und detailreichen Zügen nach. Herausgekommen ist kein einfaches, aber ein lehrreiches Buch. Es ist grob chronologisch aufgebaut, beginnt bei der Antike, bei Sokrates’ Fragekunst und dem Lob des einfachen Lebens durch die Stoiker. Über das frühe Christentum, insbesondere den syrischen Erzbischof und Theologen der Einfachheit Philoxenos, geht es in die Neuzeit und Moderne, wobei der Schwerpunkt auf religiösen, spirituellen und kulturphilosophischen Fragen liegt. Vom Primat der Einfachheit in der Wissenschaft, die seit der Erfindung von Ockhams Rasiermesser von zwei gleich erklärmächtigen Theorien stets jene bevorzugt, die mit weniger Vorannahmen auskommt – von dieser Seite der Einfachheit ist bei Brillaud kaum die Rede.
Wenn man etwas an seinem Buch kritisieren muss, dann wohl, dass es den Leser wenig leitet, ihm kein Ziel in Aussicht stellt, auf das die Argumentation zusteuert. Der Text erklärt vieles interessant und verständlich, hinterlässt am Ende jedoch kaum mehr als die Einsicht: Selbst Einfachheit ist, genau besehen, eine ziemlich komplizierte Sache.
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