Im Reich der Anleitungen
"Planet der Algorithmen" ist eine facettenreiche Tour d'Horizon über das große Feld der Handlungsvorschriften, die viele einschlägige Aspekte aufgreift – etwa Suchmaschinen, aber auch sperrige Themen wie die Komplexitätstheorie. Autor Sebastian Stiller arbeitet als Professor für Mathematik an der TU Braunschweig. In dem Buch beschreitet er sein Fachgebiet mühelos, wobei er auch Leser mit geringer Mathematikaffinität mitnimmt. Und obgleich es gar nicht so einfach scheint, den Begriff Algorithmus überhaupt nur zu definieren, füllt Stiller ihn anhand vieler unterhaltsamer Beispiele derart mit Leben, dass man von der spannenden und oft überraschenden Lektüre kaum loskommt.
Das Unerwartete beginnt schon bei der Herkunft des Begriffs, der nicht etwa griechischen Ursprungs ist, sondern auf den choresmischen Gelehrten Abu al-Chwarizmi (8./9. Jh.) zurückgeht. Leser, die Algorithmen für "höhere Materie" halten, werden hier eines Besseren belehrt. Sie erfahren, dass diese Handlungsvorschriften ausgemachtes Menschenwerk sind und entsprechend vielfältig, komplex, optimierbar, schön und häufig unzulänglich. "Für viele Systeme gilt: Schon eine kleine Vergrößerung katapultiert sie aus dem praktisch Berechenbaren heraus", schreibt Stiller.
Der Blick fürs Ganze
Für den Autor hat die Lesbarkeit Vorrang. Im Zusammenhang mit dem "RSA-Algorithmus", der auf Primfaktorzerlegung basiert, schreibt er etwa Sätze wie "Verstanden? Nein? – Egal!". Daran wird deutlich, worum es Stiller geht: Nicht um sophistische Detailverliebtheit, sondern um einen Panoramablick, der das Wesentliche erfasst und auch mathematisch weniger beschlagenen Geistern einen Einblick in den vermeintlich unwirtlichen Stoff ermöglicht.
Wenn der Mathematiker Sortieralgorithmen am Beispiel eines Bücherregals erläutert, leuchtet das ein und ist kurzweilig. Und wenn man seinem Internetverweis auf im Wortsinn getanzte Sortieralgorithmen nachgeht, wird es richtig amüsant. Am schwierigsten ist wohl der Abschnitt über die Komplexitätstheorie, der sich im Wesentlichen damit befasst, die Menge aller lösbaren Probleme in Klassen einzuteilen. Aber auch diese didaktische Steilwand erklimmt der Autor souverän, unter anderem indem er sich mit einem praktischen "Kleiderschrankproblem" befasst.
Das brandaktuelle Thema Quantencomputer reißt Stiller im Kontext der Primfaktorzerlegung an, wobei er seine grundlegenden Zweifel an der Massentauglichkeit dieser Technologie nicht verheimlicht. Auch auf maschinelles Lernen geht er ein, fasst dabei aber das derzeit heißeste Algorithmus-Eisen aus dem Bereich der künstlichen Intelligenz, neuronale Netze, nicht an. Wohl aus gutem Grund, könnte dies doch aus einer Reise über den "Planeten" eine durch die "Galaxis der Algorithmen" machen.
Hier und da zu kurz gefasst
Sicher, an einigen Stellen würde das eine oder andere Detail dem Buch noch mehr Leben einhauchen. So erwähnt der Autor lediglich lapidar, dass jener Mathematiker, der bislang als einziger eines der sieben Millenniumprobleme gelöst hat, den ausgelobten Preis samt Geld abgelehnt hat. Er verschweigt dabei, dass es sich dabei um den Russen Grigori Perelman handelt, der 2002 seinen Beweis der Poincaré-Vermutung veröffentlichte. Grundsätzlich aber ist seine Stoffauswahl gelungen.
Bei allem Entgegenkommen ist "Planet der Algorithmen" ein anspruchsvolles Werk. Es reduziert zwar das Zahlen- und Formelmaterial soweit wie sinnvoll und möglich, kommt aber nicht ganz ohne aus. Eine gewisse Denkbereitschaft muss man als Leser mitbringen, wenn man etwa den Ausführungen über Skalierbarkeit folgen möchte.
Mitentscheidend für die gute Lesbarkeit des Werks: Der Autor hat Humor und pflegt im Hinblick auf sein Fach eine gewisse Selbstironie. Auch ist sein Buch ungewöhnlich gestaltet. Statt bunter Grafiken flankieren minimalistisch-putzige Zeichnungen den Text, die stets den Kern der jeweils behandelten Sache treffen. Die Lektüre lohnt sich. Stillers "Reise" ist kein überfrachtetes all-inclusive-Angebot, sondern ein abwechslungsreicher Rucksacktrip, der Appetit auf mehr macht.
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