Aus der Schmuddelecke in die Mitte der Gesellschaft
Als die einflussreiche Tageszeitung "New York Times" im Jahr 1973 den Begriff "Porn Chic" einführte, schuf sie damit eine Bezeichnung für die zunehmende Popularität von Pornostreifen wie "Deep Throat", "Behind the Green Door" oder "The Devil in Miss Jones". Zu diesem Zeitpunkt ahnte sicherlich niemand, welches Ausmaß die Verbreitung pornografischer Stilelemente in den folgenden Jahrzehnten noch annehmen würde. Vorangetrieben durch die sexuelle Liberalisierung, löste sich in den 1990er Jahren die Grenze zwischen der vormals unter der Decke gehaltenen, schmuddeligen Porno-Welt und der gesellschaftlichen Mitte auf. Seither treiben Medien die Sexualisierung der Kultur voran – mit der Konsequenz, dass Pornografie heute zum allgegenwärtigen kulturellen Mainstream gehört.
Die Philosophin Nicola Steffen, die über die Darstellung von Sexualität und Geschlecht in den Medien forscht, beleuchtet und hinterfragt diese Entwicklung im vorliegenden Buch. Striptease oder Stangentanz seien selbst in Nachmittags-TV-Serien längst nichts Besonderes mehr, konstatiert sie. Jugendliche und sogar Kinder neigten mittlerweile zu übermäßig sexualisierter Selbstdarstellung – Mädchen würfen sich in aufreizende Posen und verschickten Nacktfotos über soziale Netzwerke, Jungen teilten selbstproduzierte Pornovideos über ihre Smartphones. "Sexting" wird dieses Phänomen genannt.
Um sich greifende Sexualisierung
Doch auch in völlig anderen, vermeintlich nicht sexualisierten Bereichen macht sich Steffen zufolge die Pornifizierung der Kultur bemerkbar. Anhänger der so genannten Food-Porn-Bewegung teilen Bilder von triefenden Soßen, schmelzender Butter und anderen gehaltvollen Speisen. Und diverse Reality-TV-Formate versuchen Quote zu erzielen, indem sie Gewalt und Demütigung darstellen – ein typisches Stilmittel der Pornografie. Die Autorin bezeichnet solche Produktionen des "Realitätsfernsehens" denn auch folgerichtig als Sozialpornografie.
Steffen geht es vor allem um die Frage, wie sich die Pornifizierung auf Jugendliche und Kinder auswirkt. Ihnen fällt Material mit explizit sexuellem Inhalt immer früher in die Hände. Laut Untersuchungen erfahren nur rund 20 Prozent der betroffenen Eltern davon, wenn ihre Kinder an "Sexting" teilnehmen, und nur 17 Prozent fragen überhaupt nach, was für Inhalte ihre Sprösslinge da auf dem Mobilgerät haben. Längst zeichnen sich die Folgen der Pornifizierung deutlich ab. Erwachsene Frauen lassen sich, geleitet von einschlägigen Bildern und Filmen, die Schamlippen chirurgisch verschönern. Jugendliche sehen Pornofilme meist bereits, bevor sie den ersten Geschlechtsverkehr hatten. Und Unternehmen produzieren erotische Unterwäsche für achtjährige Kinder.
Die Autorin sieht diese Entwicklungen mit großer Skepsis. Wie, fragt sie, lässt sich eigentlich das angebliche Ideal der geschlechtlichen Gleichstellung mit dem herabwürdigenden Frauenbild vereinen, das in Pornoproduktionen verbreitet wird? Und wie unsere angeblich so große Sorge um die Kinder mit deren kommerziell beförderter Umwandlung in kleine "Sexbomben" – über aufreizende Kleidung, Schminke und das Posieren in zahllosen Castingshows?
Steffen liefert mit ihrem Werk eine umfassende, kritische Bestandsaufnahme der pornifizierten Gesellschaft. Sie gibt Eltern, Erziehern und Lehrern, aber auch Kindern und Jugendlichen verschiedene Tipps zu einer bewussteren Mediennutzung – und damit zu einem kompetenteren Umgang mit pornografischen Inhalten.
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