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Buchkritik zu »Projekt Menschwerdung«

Es gibt schon so viele aktuelle und mehr oder weniger umfangreiche Abhandlungen über die Entstehung des Menschen. Muss es zu diesem Thema noch ein weiteres Werk geben? Bereits die ersten Seiten der Lektüre wischen diese Bedenken beiseite. Gerd-Christian Weniger, Direktor des Nean-derthal Museums in Mettmann bei Düsseldorf, bringt sehr umfassend und auf verständliche Weise Ergebnisse aus verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen, um ein breit gefächertes Bild der biologischen wie auch der kulturellen und gesellschaftlichen Entwicklung des Menschen von ihren Anfängen bis in die Gegenwart zu präsentieren. Die Erklärung unseres Daseins "aus der Millionen von Jahren andauernden Interaktion zwischen biologischem Erbe und kultureller Innovation" zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch. Die interdisziplinäre Zusammenar-beit von Archäologen, Paläontologen, Ethnologen, Verhaltens- und Sprachforschern und seit einigen Jahren auch Molekularbiologen vermehrt ständig unser Wissen über unsere Herkunft. Doch trotz dieser Fortschritte sind die untersuchten Zeiträume immer noch immens und die Belege dünn gesät: "Für die Rekonstruktion von jeweils hundert Generationen schafft es die Paläoanthropologie, mit weniger als einem Individuum auszukommen." Dadurch bleiben zwangsläufig viele Fragen offen. Neben der in Jahrmillionen entstandenen typisch menschlichen Skelettmorphologie und den sich daraus ergebenden Möglichkeiten zur Fortbewegung und zum Werkzeuggebrauch war es vor allem die Herausbildung besonderer kognitiver und kultureller Fähigkeiten, die unserer Art im Laufe ihrer Evolution einen so unvergleichlichen Vorteil gegenüber allen anderen Lebewesen verschafft hat. In den fünf Hauptkapiteln "Leben und Überleben", "Mythos und Religion", "Werkzeug und Wissen", "Umwelt und Ernährung", "Verständigung und Verträglichkeit" fasst der Autor die Leitthemen der menschlichen Evolution zusammen. Betrachtet man das vorläufige Ergebnis dieser biologischen und kulturellen Entwicklung, so wird deutlich: Wir leben auch heute noch (wenn auch oft unbewusst) von den Erfahrungen und Errungenschaften vergangener Jahrtausende. Weit zurückliegende Phasen unserer kulturellen Entwicklung sind keine abgeschlossenen Kapitel. Unser heutiges Denken und Handeln ist untrennbar mit diesen Wurzeln verbunden. Ein Beispiel hierfür ist die Rückbesinnung auf die sozialen Prinzipien des Zusammenlebens von oftmals auch als "primitiv" bezeichneten Gesellschaften: Inzwischen sind "soziale Gleichheit, Individualität und Mobilität – der Dreiklang des politischen Systems der Jäger und Sammler – … allgemeine politische Forderungen und vielfach bereits reale Bedingungen in den demokratischen Gesellschaften der Gegenwart". In gewisser Weise ist die Existenz des anatomisch modernen Menschen auch das Ergebnis einer Vielzahl von Glücksfällen und Zufälligkeiten, die sich im Laufe seiner stammesgeschichtlichen Entwicklung ereignet haben. Die Wege der Evolution verlaufen nicht konstant und schon gar nicht zielgerichtet, und: Sie ist noch nicht zu Ende. Unsere biologische und kulturelle Evolution geht mit ungewissem Ausgang weiter. Auch wenn wir uns im Laufe der Entwicklung zum Homo sapiens durch unsere einzigartige Kulturfähigkeit einen immer eigenständigeren Mikrokosmos innerhalb unserer natürlichen Umwelt schaffen konnten, sind wir dennoch nach wie vor ein fester Bestandteil dieser Umwelt. Wir können als global präsente Spezies in Zukunft wohl nur dann erfolgreich bestehen, "wenn wir den Menschen als ein Projekt (der Evolution) begreifen, an dem er selber mitarbeiten muss". Die umfassenden und breit angelegten Ausführungen zum Thema biologische und kulturelle Evolution auf vergleichsweise wenigen Seiten werden jeden Interessierten überzeugen.
  • Quellen
Spektrum der Wissenschaft 04/2002

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