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Südamerikanische Seelenkunde

Freuds Psychoanalyse entstand in der viktorianischen Epoche, einem Zeitalter extremer Moralvorstellungen und der Auffassung, Neurosen seien Pendants zu schweren seelischen Komplikationen, den Psychosen. Wie kam die Psychoanalyse nach Brasilien, das zu dieser Zeit gerade zu nationaler Identität fand – geprägt durch indigene Kulturen Südamerikas ebenso wie durch afrikanische Einflüsse infolge der Sklaverei? Einem Land, in dem sich damals eine neue, äußerst facettenreiche Gesellschaft bildete, das sich als frei und offen verstand und in dem Menschen kein Problem mit dem Ausleben ihrer Sexualität hatten? Trotz des großen Kontrasts zum "alten Europa" war Brasilien das erste portugiesischsprachige Land, in dem sich die Psychoanalyse als Behandlungsmethode breit durchsetzen konnte.

Damit psychoanalytische Ansätze wirken können, müssen sie sich in die jeweilige Kultur einfügen. Diesen Prozess beschreiben die Autoren des Buchs anhand der 100-jährigen Geschichte der Psychoanalyse in Brasilien, die sie aus unterschiedlichen Blickwinkeln unter die Lupe nehmen. Sie behandeln etwa den Briefverkehr zwischen Sigmund Freud (1856-1939) und Julio Pires Porto-Carrero, der 1924 als erster Psychoanalytiker in Brasilien praktizierte und versuchte, diese Behandlungsform und die Theorie dahinter für gesellschaftshygienische Zwecke zu missbrauchen. Auch zeigen sie, warum der Ansatz des englischen Psychoanalytikers Donald Woods Winnicott (1896-1971) besser als Freuds Methode zu einer Gesellschaft passt, die sich durch Diversität auszeichnet. Woods sah die Wechselbeziehung mit der Umwelt als wesentlich für die Identitätsbildung an.

Die insgesamt neun Autoren – Deutsche und Brasilianer – zitieren in ihrem wissenschaftsgeschichtlichen Werk viele Originalquellen, was zuweilen den Lesefluss stört, sofern man des Portugiesischen nicht mächtig ist. Trotzdem ist es ein aufschlussreicher Band für alle, die sich dafür interessieren, wie psychotherapeutische Ansätze im Wechselspiel mit Geschichte, Gesellschaft und Kultur entstehen.

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