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»Psychologie ohne Individuum?«: Plädoyer für Einzigartigkeit

Ein Professor für Sozialpsychologie kritisiert die in der Persönlichkeitspsychologie üblichen Generalisierungen.
Porträtfotos von jungen Erwachsenen unterschiedlicher Herkunft

Die psychologische Forschung ist geprägt von Statistik und Versuchen, allgemeingültige Regeln aufzustellen. Leider schnürt sie die Individualität des Menschen damit in ein viel zu enges Korsett, kritisiert Jürgen Straub. Der Inhaber des Lehrstuhls für Sozialtheorie und Sozialpsychologie an der Ruhr-Universität Bochum übt in seinem Werk Kritik an der gängigen psychologischen Praxis, die sich der Nomologie verschrieben hat. In der Persönlichkeitspsychologie stehen Generalisierungen an erster Stelle. Diese Denkrichtung wirkt übermächtig auf den Autor, er bestreitet aber nicht, dass eine solche Herangehensweise an das Seelenleben wissenschaftlicher Standard ist.

Straub vertritt in seinem Fachbuch eine klare Position, was Psychologen tun sollten: sich mehr dem »Besonderen« öffnen, statt es zu relativieren. Im Sinne einer Idiographie sollten sie verstehen, dass die Psyche keine feste Größe, sondern ein Prozess ist, der sich lebenslang verändert. Deshalb sei es nicht angemessen, mit festen Zuschreibungen und Verallgemeinerungen zu arbeiten. Er selbst bezeichnet sich als Vertreter der relationalen Hermeneutik und forscht interdisziplinär, sozial- und kulturpsychologisch.

Straub beschreibt Ansätze, wie man sich der Einzigartigkeit eines Menschen annähern kann, zum Beispiel mit der biografischen Methode von Hans Thomae, der politischen Einzelfallanalyse von Ulrike Gatzemeier oder der Lebenslaufanalyse von Renaud van Quekelberghe. Er arbeitet Stärken und Schwächen der jeweiligen Herangehensweisen heraus und zeigt, wie diese versuchen, das Individuelle, das jeden von uns kennzeichnet, in den Mittelpunkt zu rücken. Zuweilen stellt er die verschiedenen Ansätze auch einander gegenüber, indem er Thomae, Gatzemeier und Quekelberghe miteinander diskutieren lässt.

Die Darstellungen wirken zuweilen etwas langatmig. Doch der rote Faden geht nie verloren und Straub erklärt, warum die detaillierten Beschreibungen zentral für seine Argumentation sind. Ein Blick in andere Disziplinen wie die Soziologie oder Philosophie verdeutlicht, dass diese dem Individuum mehr Platz einräumen als die Psychologie.

In einer Zeitreise untermauert der Sozialpsychologe seine Argumentation. So beschreibt er, dass Einzigartigkeit früher nur höheren Schichten zugebilligt wurde und erst in der Renaissance unabhängig von Klasse, Geschlecht oder Herkunft einen Aufschwung erfuhr. Heute scheint die Präsentation von Individualität (beispielsweise mit Selfies in den sozialen Medien) zum weit verbreiteten Stilmittel in der täglichen Kommunikation geworden zu sein. Vor diesem Hintergrund wirkt es absurd, dass ausgerechnet die Wissenschaft, die sich mit der menschlichen Psyche beschäftigt, an Verallgemeinerungen festhält.

In »Psychologie ohne Individuum?« versteckt sich der Autor nicht hinter wissenschaftlichem Common Sense und verklausulierter Fachsprache. Wie in vielen wissenschaftlichen Werken werden zahlreiche spannende Nebenschauplätze in ausschweifenden Fußnoten eröffnet. Ein Glossar wäre vermutlich hilfreich gewesen. Dennoch ist Straubs Buch verständlich geschrieben, seine detaillierte Argumentation gut nachvollziehbar und seine Forderung absolut gerechtfertigt.

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