Über die Quantenwelt hinaus
In der modernen Physik koexistieren zwei grundverschiedene Theoriegebäude. Einsteins allgemeine Relativitätstheorie beschreibt die Schwerkraft als kontinuierliche Krümmung der Raumzeit. Die Quantenmechanik, begründet unter anderem von Niels Bohr, postuliert hingegen körnige Strukturen, die sich – was gemäß der klassischen Physik unmöglich wäre – abwechselnd einmal wie Wellen, einmal wie Teilchen verhalten. Beide Theorien sind in ihrer jeweiligen Domäne ungemein erfolgreich: Die Gravitationstheorie erfasst kosmologische Phänomene, die Quantenmechanik subatomare Teilchenprozesse mit größter Genauigkeit.
Diese Zweiteilung der Grundlagenphysik wird spätestens dann problematisch, wenn die zwei Bereiche einander ins Gehege kommen. Zum einen spielen Quantenprozesse in der heutigen Kosmologie eine wichtige Rolle, um Vorgänge kurz nach dem Urknall, die Struktur der kosmischen Hintergrundstrahlung oder das Verhalten Schwarzer Löcher zu erklären. Zum anderen bezweifelt heute kaum ein Physiker, dass die Gravitationswellen, die zum Aufspüren und Abbilden Schwarzer Löcher in gigantischen Observatorien zur Überlagerung gebracht werden, ähnlich quantisiert sind wie etwa das elektromagnetische Feld: Den Quanten des Letzteren, den Photonen, entsprechen beim Schwerefeld die – vorderhand hypothetischen – Gravitonen.
Fäden und Schleifen
Nur: Wie bringt man Quanten und Schwerkraft unter einen theoretischen Hut? Der populärste Versuch ist die Stringtheorie; sie versucht alle Elementarteilchen als mehrdimensionale Schwingungen winziger Fäden und Flächen zu beschreiben. Eine prominente Konkurrentin dieses Ansatzes ist die Schleifenquantengravitation, die vor allem Lee Smolin, der Autor des vorliegenden Buchs, entwickelt hat. In ihr spielt die Raumzeit eine ähnlich aktive Rolle wie in Einsteins Gravitationstheorie – nur erweist sich deren Quantisierung mathematisch als ungeheuer schwierig: Raum und Zeit werden aus winzigen Schleifen aufgebaut, die komplizierte Netzwerke bilden sollen.
Das Manko all dieser Versuche ist, dass sie sich mit heutigen Mitteln kaum verifizieren lassen. Die Hoffnung, mit dem Large Hadron Collider bei CERN stringtheoretische Effekte nachzuweisen, hat sich bisher nicht erfüllt, und auch empirische Erfolge der Schleifenquantengravitation stehen vorderhand buchstäblich in den Sternen. In dieser unbefriedigenden Situation nimmt Smolin erneut den historischen Ausgangspunkt des Dilemmas unter die Lupe, nämlich die Spaltung zwischen Einsteins Gravitationstheorie und der von Bohr initiierten Interpretation der Quantentheorie. In jener legendären Bohr-Einstein-Debatte der 1930er Jahre versuchte Einstein mehrfach nachzuweisen, dass die Quantentheorie unvollständig sei; es müsse dahinter »verborgene Parameter« geben, die aus ihr erst eine richtige Beschreibung der subatomaren Wirklichkeit machen würden.
Nach Meinung fast aller zeitgenössischen Physiker unterlag Einstein damals, und Bohrs »Kopenhagener Deutung« etablierte sich als die orthodoxe Interpretation der Quantenphysik. Diesen Prozess rollt Smolin nun abermals auf und gibt diesmal Einstein im Wesentlichen Recht: Jawohl, so Smolin, die Quantentheorie ist unvollständig! Sie sei geradezu falsch, wenn man sie als grundlegende Aussage über die Wirklichkeit ausgebe und auf das Universum als Ganzes anwende. Darum müsse eine erfolgreiche Theorie von Allem zu Einstein zurückkehren und die gängige Auffassung der Quanten verwerfen.
Worin bestand Einsteins Kritik? Er verlangte von jeder physikalischen Theorie, sie müsse dem »lokalen Realismus« entsprechen, wie wir ihn im Alltag für selbstverständlich halten. Mit »Realismus« meinte Einstein die Überzeugung, dass ein wiederholt beobachtetes Ding in der Regel auch dann vorhanden ist, wenn wir es gerade nicht betrachten. »Lokal« muss dieser Realismus laut Einstein sein, weil ein an einem Ort stattfindendes Ereignis von lokalen Ursachen abhängen muss und nicht etwa von beliebig weit entfernten Vorgängen, die das lokale Ereignis augenblicklich – das hieße mit Überlichtgeschwindigkeit! – beeinflussen würden.
Tatsächlich konnten die Quantenphysiker anhand des Phänomens der Verschränkung zeigen, dass ihre Theorien mit dem lokalen Realismus unvereinbar sind, und in diesem Punkt wurde Einstein widerlegt. Das will auch Smolin gar nicht bestreiten, sich aber mit der gängigen, tendenziell antirealistischen Kopenhagener Deutung dennoch nicht abfinden. Er referiert mehrere Versuche, den Realismus zu retten und dafür die Lokalität zu opfern. So schlug der US-Physiker David Bohm in den 1950er Jahren eine Theorie vor, bei der die Quantenteilchen einem nichtlokalen Führungsfeld folgen, und Hugh Everett III postulierte, alle möglichen Zustände eines Quantensystems seien gleichermaßen wirklich, allerdings in parallelen Welten.
Lee Smolin gibt eine ausgezeichnete Darstellung solcher nichtlokal-realistischen Ansätze, wobei er ihre Mängel gebührend herausarbeitet. Vor allem kritisiert er überzeugend die letztlich antirealistischen Versuche, den schillernden Begriff der Information als eine Art Grundsubstanz der Quantenwelt auszugeben. Auf diese Weise arbeitet der Autor in aller Schärfe das Problem heraus, einen halbwegs alltagsnahen Realismus mit der Quantenphysik zu vereinbaren.
Abschließend präsentiert Smolin eine Idee, wie eine realistische Theorie von Allem aussehen könnte, die jenseits sowohl der Quantenwelt als auch der einsteinschen Raumzeit läge. Überraschenderweise weist er der Zeit die fundamentale Rolle zu. Sie verlaufe irreversibel von der Vergangenheit in die Zukunft gemäß Ursache und Wirkung, wohingegen der Raum als Schauplatz von Ereignissen ein bloß abgeleitetes, »emergentes« Phänomen sei.
Diese Idee ist erstaunlich unschön in dem Sinn, dass sie fundamentale Symmetrien aufhebt: Die Gleichberechtigung von Welle- und Teilchenaspekt verschwindet wie in der bohmschen Theorie, da sie den Teilchen Vorrang gegenüber dem abstrakten Führungsfeld verleiht, und die in der Relativitätstheorie grundlegende Symmetrie von Raum und Zeit wird zu Gunsten Letzterer preisgegeben. Dabei ist die Zeit in der Quantenmechanik gar keine Beobachtungsgröße (»Observable«), sondern bloß ein Parameter, und in Einsteins Theorie sind Vergangenheit und Zukunft vom Bezugssystem abhängige »relative« Begriffe.
Jedenfalls ist Smolins Idee gewagt. Aber vielleicht muss das ein in seinem Sinn realistischer Lösungsversuch des physikalischen Grunddilemmas sein? Oder würde eher eine »Liberalisierung« des Realismusbegriffs weiterhelfen? In der Quantenphysik sind »möglich« und »wirklich« ganz offensichtlich keine absoluten Gegensätze mehr. Und vielleicht müssen wir uns an einen Stückwerk-Realismus gewöhnen, der für unterschiedliche Wirklichkeitsbereiche separate Beschreibungsformen zulässt.
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