»Regeln«: Das Leben ist (fast) vollständig geregelt
Plötzlich wurde verboten, öffentliche Räume ohne Maske zu betreten, nach 22 Uhr die eigene Wohnung zu verlassen, und selbst Besucher durfte man nicht mehr ungeregelt zuhause empfangen. Die Corona-Pandemie machte überdeutlich klar, wie sehr Regeln unser Leben bestimmen, dass in Notlagen neue Regeln das Leben durcheinanderwirbeln und gesellschaftliche Konfliktpotenziale eskalieren können.
»Kulturen unterscheiden sich hinsichtlich der Inhalte ihrer Regeln, doch keine Kultur kommt ohne Regeln aus – und zwar ohne sehr viele Regeln. Ein Buch über diese Regeln wäre fast schon eine Geschichte der Menschheit«, schreibt Lorraine Daston, ehemalige Direktorin des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte. Ihr Buch »Regeln« entstand während der Corona-Pandemie. Es schlägt den großen Bogen von der griechisch-römischen Antike bis zum 19. Jahrhundert.
Alles ist geregelt: Arbeits- und Schultage, wie der Verkehr zu fließen hat, wie wir korrekt schreiben, welche Kompositionsregeln in Musik oder Lyrik gelten. Wir folgen Werkzeug- und Maschinenanweisungen, unser Leben steuern zunehmend anonyme Algorithmen, Steuern erhebt der Staat mittels Gesetzen und selbst die Form, wie wir uns begrüßen, ist kulturell bestimmt und – oftmals unbemerkt – eben regelkonform. Wie ungewohnt fühlte es sich an, dass wir uns wegen Corona die Hände nicht mehr schütteln und auf Wangenküsse verzichten sollten?
Die Autorin kategorisiert Regeln in drei Hauptgruppen: als Werkzeuge zur Messung und Berechnung, als Vorbilder und Modelle sowie als Paradigmen beziehungsweise Gesetze. Zudem strukturiert sie Regeln in drei Gegensatzpaaren: Sie können füllig oder schlank formuliert sein, flexibel oder starr in der Anwendung sein, allgemein gelten oder spezifisch je nach Geltungsbereich.
Schlank, streng und klar sind Regeln im Benediktinerkloster seit dem 6. Jahrhundert. Sie regeln, wann die Mönche aufstehen, arbeiten, beten, dass sie bei gemeinsamen Mahlzeiten schweigen. Aber gleichzeitig gibt es viele Ausnahmen, die dem Ermessen des Abts überlassen sind. Verkehrsregeln sind ebenfalls meist schlank, erlauben jedoch, wie etwa das Stoppschild, keinen Spielraum. Füllige Regeln findet man in Kochbüchern, die individuelle Abweichungen gestatten.
Wann und warum manche Regeln versag(t)en, erläutert Daston am Beispiel spezifischer Bekleidungsvorschriften. Nachdem der überseeische Handel dem europäischen Bürgertum ab der Neuzeit Reichtum bescherte, ersann es stets neue Moden, um den Adel zu übertreffen. Bekleidungsregeln, die der Adel daraufhin erließ und jährlich erneuerte, waren allerdings untaugliche Versuche, die Bürger in Schach zu halten, zugleich aber vor ruinöser Geldausgabe zu schützen.
Im Vergleich dazu als sehr erfolgreich beurteilt Daston die Arbeit von Verlegern, Sprache und Grammatik zu regeln – sei es in den USA durch »Webster’s Dictionary«, in Frankreich durch das »Dictionnaire de l’ Académie française« oder durch das »Vollständige orthographische Lexikon der deutschen Sprache« des Lexikographen Konrad Duden. Dass wir uns in Deutschland derzeit leidenschaftlich um Sonderzeichen bei geschlechtergerechter Sprache streiten, begründet Daston auch damit, dass »Rechtschreibregeln in einem Alter gelernt (werden), in dem fast alle Regeln als heilig gelten.«
Auch Improvisation, Justierung und Anpassung an Umstände gehören dazu
Eine gegensätzliche Bewegung erkennt Daston im fast gleichzeitigen Entstehen von Naturrecht und Naturgesetzen im 17. Jahrhundert. Der Versuch, das Naturrecht auf die Vernunft und Instinkte der Menschen zu gründen, war Ausdruck der Emanzipation eines von Gott gegebenen Rechts. Dabei wurde politisch intensiv die Frage diskutiert, ob Herrscher von Gottesgnaden über dem Recht stünden oder dem Gesetz unterstellt seien. Umgekehrt entbrannte ein Disput um die Naturgesetze. Da sie allgemein und universell gelten sollten, zerstritten sich Philosophen wie Newton und Leibniz an der Frage, ob Gott als Schöpfer frei sei, mit Wundern in ihre Regelhaftigkeit eingreifen zu dürfen, nachdem die Welt nun einmal geschaffen sei.
Keine Regel ohne Ausnahme. Daston bricht schließlich eine Lanze für das Beugen und Brechen von Regeln und Gesetzen. Die Kasuistik böte eine Fülle von Interpretationen, die Billigkeit eine Möglichkeit, das Recht abzumildern, wenn sein Befolgen Unrecht hervorbringt, und in Notlagen könnten Staaten Gesetze aussetzen, um ihre Bürger vor plötzlichen Gefahren zu schützen, wie es etwa bei Corona der Fall war. Improvisation, Justierung und Anpassung an Umstände blieben geboten.
Daston ist eine sehr belesene Wissenschaftlerin mit großem historischem Überblick. Ihr Buch ist informativ und bei aller Komplexität verständlich und spannend geschrieben. Sympathisch ist, dass die Autorin für Urteilsvermögen, Ermessen und Denken in Analogien plädiert, wenn Regeln das Leben zu sehr einengen. Ein sehr lesenswertes Buch.
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