»Reisen im Mittelalter«: Von England nach China – eine virtuelle Reise
Wer im Mittelalter eine Reise antrat, der brauchte Mut. Denn er (die meisten überlieferten Berichte handeln von Männern) verließ mit der vertrauten Umgebung auch eine Gemeinschaft, in die er integriert war, die Schutz bot. Außerhalb seines Dorfes, seiner Stadt oder Burg war er ein Fremder. Im besten Fall begegnete man ihm freundlich und hoffte auf Einnahmen, im schlechtesten war er Feind oder Beute.
Ein Schreiben von einem weltlichen oder geistlichen Fürsten bedeutete Sicherheiten. Ohnehin bedurfte es etlicher Schriftstücke, welche die Ausreise aus dem eigenen Herrschaftsgebiet und das Durchreisen durch andere genehmigten. Tunlichst führte man auch Geldstücke in den entsprechenden Währungen mit sich, etwa um Quartiere zu beziehen, lokale Führer anzuheuern oder Gebühren zu entrichten. Ohne üppige Barschaft schloss man sich besser einer Reisegruppe an.
Anders als heutzutage war man aber nicht zum Zeitvertreib unterwegs. Kaufleute beförderten Waren, Soldaten zogen in Kriegsgebiete, Pilger suchten an heiligen Stätten Erlösung von ihren Sünden. Manch einen trieb aber auch die Abenteuerlust in die Ferne.
Von Mythen und früher Wissenschaft
Der britische Historiker Anthony Bale hat sich an die Fersen dieser Reisenden geheftet, in England beginnend und immer weiter gen Osten. Er ist selbst an ferne Orte gefahren, um Bibliotheken zu durchforsten und sich ein Bild zu machen. Dabei lässt er die Quellen nicht nur selbst sprechen, sondern deutet sie auch als Historiker aus und liefert obendrein viel Kontext. Beispielsweise schildert er anschaulich, welchen Eindruck ein Pilger im Heiligen Land gewonnen haben dürfte: »Die Via Maritima, der Weg, auf dem die Pilger von der Küste aus von Jaffa nach Jerusalem reisten, zog sich als eine einzige Staubfahne durch die Landschaft. Den Pfad säumten seltsame Bäume und vertrocknete Sträucher, deren dornige Rispen sich in die Kleidung und die Beine der Pilger bohrten.«
Apropos Heiliges Land. Wussten Sie schon, dass es weit südlich der Levante eine Art Neues Jerusalem gab? Das war Lalibela im Königreich Äthiopien. Bale zufolge wurde es möglicherweise »als Reaktion auf die muslimische Eroberung Jerusalems im Jahr 1187 gegründet, da nun dorthin zu pilgern nur noch schwer möglich war.« Lalibela umfasste elf in Felsen gehauene Kirchlein sowie eine Repräsentation Golgotas und des Berges Sinai. Das mit »Ein Abstecher nach Äthiopien« benannte Kapitel gehört zu den spannendsten des Buchs. Für die Europäer war Äthiopien ein Land, über das vor allem Mythen erzählt wurden; etwa, dass die Menschen dort auf Grund der Sonne schwarz verbrannt seien. Zudem werde es von einem christlichen Priesterkönig namens Johannes regiert. Es gab nicht wenige Anstrengungen, diesen mythischen Herrscher ganz praktisch für den Kampf gegen die Muslime zu gewinnen.Vom Heiligen Land reist Bale weiter auf der Seidenstraße, wo er über Karawansereien nachdenkt, aber auch über mittelalterliche Vorstellungen vom Paradies und vom Schlaraffenland. Reisende haben nun einmal Zeit. Den überlieferten Quellen folgend, gelangt er nach Persien, Indien, Japan und China. Weiter kam man nicht, oder doch? Zum Abschluss seines gelungenen »Reiseführers« beleuchtet Bale die Vorstellungen über die Gestalt der Welt. Dass die Kugelform bekannt war, demonstriert nicht nur der Globus des Martin Behaim, sondern auch eine Geschichte: Ein junger Mann verließ sein Dorf und zog in die Fremde, immer weiter. Am Ende traf er in einem Ort ein, der seiner Heimat glich. Er war einmal um die ganze Welt gereist. Da muss sich dann sogar Bale geschlagen geben.
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