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»Revolution aus dem Mikrokosmos«: Ernährung: natürlich oder nachhaltig?

Kann ein Prinzip, das die Menschheit schon seit Tausenden von Jahren anwendet, eine Revolution bewirken? Ja, sagt der Biologe und Wissenschaftskommunikator Martin Reich.

Vielleicht kennt nicht jeder den Begriff der »Fermentation«, wohl aber Produkte dieses Prozesses wie Wein, Bier oder Brot. »Fermentation« bedeutet schlicht, dass Mikroorganismen einen organischen Stoff in einen anderen umwandeln. Zu den Möglichkeiten heutiger Biotechnologie gehört es, Mikroorganismen neue »Tricks« beizubringen. So könnte Fermentation künftig andere Rohstoffe, als dies bislang möglich war, und auch andere Produkte hervorbringen. Das ist die Kernbotschaft von Martin Reich.

Auf rund 300 Seiten erläutert der Autor, warum die Menschheit diese Chance nutzen sollte und welch großes Potenzial darin schlummert. Zunächst erklärt Reich, was Mikroorganismen überhaupt sind, wie sie leben und welche Rolle sie für die Menschheit spielen. Dann folgt ein Exkurs in Geschichte und Funktionsweise der Fermentation, danach ein Abschnitt zu Methoden der Biotechnologie. Als roter Faden zieht sich die Botschaft durch den Text, dass die Art, wie Menschen heute Lebensmittel produzieren, alles andere als nachhaltig ist – etwa mit Blick auf das Tierwohl, die Gesundheit und den Klimawandel. »Landwirtschaft und Ernährung sind für rund ein Drittel aller Treibhausgasemissionen und für ca. 80 Prozent des Verlusts an Biodiversität verantwortlich«, führt Reich etwa aus und verweist beispielhaft auf die 140 000 Hühner, die weltweit in jeder Minute geschlachtet werden.

Bis es konkret um die Frage geht, wie denn nun eine mögliche »Revolution« aussehen könnte, ist man schon in der Mitte des Buchs angelangt. Wer all die oben genannten Hintergründe noch nicht kennt, wird diese Ausführlichkeit begrüßen. Wer eigentlich nur wissen möchte, wie die Fermentation die Nachhaltigkeitsprobleme der Ernährung lindern kann, ist bis dahin vielleicht schon ausgestiegen; oder dürfte sich zumindest gefragt haben, warum man in diesem Kontext wissen muss, dass es in Utah eine Kolonie aus 47 000 Zitterpappelklonen gibt und Mikroorganismen nicht nur Gutes bewirken, sondern auch die Pest verursachen.

Das Buch nach der Hälfte zu beenden, wäre jedoch schade. Denn was Reich in seinem zweiten Teil präsentiert, könnte tatsächlich ein Ausblick auf eine Revolution in unserer Nahrungsmittelproduktion sein. Schließlich ermöglicht es die Fermentation, Reststoffe als Rohstoffe zu verwenden und dadurch die Flächennutzung massiv zu verringern. Mit ihr lassen sich Lebensmittel herstellen, die tierischen Produkten zum Verwechseln ähneln und somit, wenn sie auf unseren Tellern landen, kein Tierleid verursacht haben.

»Natürlichkeit oder Nachhaltigkeit? Wir müssen uns entscheiden.«

Tatsächlich könnte die Revolution bereits begonnen haben, wie Reich ausführt: »Seit mehreren Jahrzehnten ermöglichen uns Bakterien und mikrobielle Pilze, häufig mithilfe moderner Biotechnologie, die Produktion von zahlreichen Vitaminen, Aromen und anderen Lebensmittelzusätzen und sparen dadurch die Fläche ein, die für den Anbau von Pflanzen nötig wäre, um dieselben Mengen an Naturstoffen zu gewinnen.« Und bei der Produktion von veganem Käse werde Fermentation schon länger angewendet als bei veganer Wurst: »Auch hier sorgt die Fermentation einer pflanzlichen Basis für herzhafteren Geschmack.« Einen Blick in die Zukunft wagt der Autor etwa bei einer Palmölalternative aus Mikroorganismen: »Theoretisch könnte man mit einem Hektar vertikaler Ölproduktion mit Hefen in Bioreaktoren 80 000 Hektar Palmölplantagen ersetzen.«

Reich gibt nicht nur einen Überblick über Entwicklungen und entwirft Zukunftsszenarien, er lenkt das Augenmerk auch auf regionale Besonderheiten: »Bei uns in Deutschland bestand ein veganes Gericht bis vor gar nicht langer Zeit hingegen meist noch daraus, dass man einfach nur die Beilagen bekam. […] Asien ist im Vergleich dazu ein Eldorado für fermentierte vegetarische und vegane Gerichte«, etwa mit Miso, Tempeh und Kōji.

»Revolution aus dem Mikrokosmos« bezeichnet also keine realitätsferne Utopie. Der Autor benennt auch mögliche Hürden und Grenzen der neuen Technologien. Er reflektiert die Interessen der heutigen Landwirtschaft: Wäre sie Verlierer der Revolution oder könnte sie diese mitgestalten? Am Ende formuliert er eine Alternative, die zu spannenden Debatten animieren könnte: »Natürlichkeit oder Nachhaltigkeit? Wir müssen uns entscheiden.«

Reich schreibt trotz seiner manchmal etwas weitschweifigen Erklärungen keineswegs langweilig – im Gegenteil. Das Buch ist durchweg gut verständlich, Passagen über Besuche bei Forschenden oder Selbstversuche sorgen für Abwechslung, und hin und wieder findet sich auch eine Prise Humor. Fachlich gibt es nichts zu beanstanden. Immerhin 159 Quellen belegen die zusammengestellten Informationen. Trotzdem bleibt nach der Lektüre das Gefühl, dass man die gleiche Botschaft auch auf halb so vielen Seiten hätte vermitteln können. Wer über Vorkenntnisse zum Thema verfügt oder einfach gleich zum Wesentlichen kommen möchte, der beginnt am besten bei Kapitel vier – denn lesenswert und inspirierend ist die »Revolution aus dem Mikrokosmos« allemal.

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