Spaziergang durch das 16. Jahrhundert
Um es gleich vorwegzunehmen: William Shakespeare spielt in diesem Buch keine große Rolle. Der englische Star-Dramatiker nimmt hier für die deutsche Leserschaft eher die Rolle des prominenten Testimonials ein, verkörpert und verbildlicht er doch wie kein zweiter das 16. Jahrhundert im englischen Königreich. Und doch trägt Buchautor Ian Mortimer, promovierter Historiker, mit diesem Werk enorm zum Hintergrundverständnis von Shakespeares Werk bei.
Mortimer widmet sich in seinem »Handbuch für Zeitreisende ins elisabethanische England« – so der wörtlich übersetzte Originaltitel – nicht etwa den großen politischen Momenten, Zusammenhängen und Entwicklungen in England unter Elisabeth I. Er legt auch keine historische Abhandlung vor, die ausschließlich Mächtige in den Fokus nimmt. Vielmehr schreibt er Sozialgeschichte und konzentriert sich auf das Alltagsleben der Menschen. Dabei spart er kaum einen Lebensbereich und keine soziale Klasse aus. In drei einführenden Kapiteln zur Geografie, zur Bevölkerungsstruktur und zu Glaubensfragen gibt er zunächst einen Überblick über den damaligen Zustand des Landes. Hier wird deutlich, wie die Königin als herausragende Persönlichkeit ihrer Zeit das politische, wirtschaftliche und religiöse Geschick ihres Landes prägte – und das, obwohl Frauen in dieser Zeit keine juristischen Ämter ausfüllen durften.
Alltag vor 450 Jahren
Diese einführenden Abschnitte legen den Grundstein für den zweiten Teil des Buchs, der sich mit ganz verschiedenen Lebensbereichen beschäftigt – von Ernährung, Wohnen und Kleidung über Hygiene und Medizin bis zum Rechtssystem sowie künstlerischen und spielerischen Aktivitäten. Unter anderem beschreibt Mortimer die Menüs während eines festlichen Dinners; präsentiert modische Accessoires wie die Halskrause; informiert darüber, für welche Verbrechen man am Galgen landete; schildert, was die Inselbewohner über ihre Nachbarn auf dem Kontinent dachten und womit sich die Engländer dieser Zeit den Po abwischten. Über den damaligen Stand der Technik und angewandten Wissenschaften informieren beispielsweise einige Seiten zum Buchwesen und zur Seefahrt. Prominente Vertreter der Zunft wie Sir Francis Drake dienen hierbei zur Veranschaulichung. All das und vieles mehr behandelt der Autor in kurzen und prägnanten Kapiteln.
Ausschlaggebend ist die Idee, das Buch als Reiseführer zu konzipieren. Mortimer hat dieses Format bereits für das Mittelalter ausprobiert und diesem Band einen weiteren über die »Stuart-Restauration« im 17. Jahrhundert folgen lassen, der bisher nur in Englisch vorliegt. Zwar mutet die direkte Ansprache der Leser anfangs etwas gewöhnungsbedürftig an, vor allem wenn es um allgemeinere politische Betrachtungen geht. Bei den kleinteiligen Alltagsthemen jedoch stellt sich das als äußerst charmant heraus. Mortimer geleitet sein Publikum durch ein Land im Aufbruch und vermittelt auf sehr persönliche Weise, wie bedeutsam die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts für die Entwicklung des englischen Königreichs war. Für jeden Fakt hat der Historiker ein passendes Beispiel parat und blättert so die Lebenswelten diverser sozialer Schichten auf. Hier und da fallen dieser Vorgehensweise einige Differenzierungen zum Opfer, etwa wenn der Autor sich an menschlichen Kategorien wie Humor und Stolz der Zeitgenossen versucht, aber als Leser ist man sich des anekdotischen Charakters solcher Abschnitte meist bewusst.
Geschickt ausgewählte Zitate aus zeitgenössischen Quellen – vom Haushaltsbuch bis zum Reisebericht –, Statistiken, amüsante Geschichten und eindrückliche Einzelschicksale bieten den Lesern Abwechslung und zugleich eine geschichtswissenschaftliche Grundlage. Fußnoten mit den entsprechenden Angaben laden zum Vertiefen ein. Gerade diese verschiedenen Zugänge machen das Buch zu einer farbenfrohen und unterhaltsamen Wanderung durch die Epoche.
»In der Geschichte geht es eigentlich nicht um die Vergangenheit, sondern um das Verständnis der Menschheit in den Läufen der Zeit«, schreibt Mortimer in den Schlussbetrachtungen und begründet seinen Ansatz für das Buch. Und dann ergibt es doch wieder Sinn, dass Shakespeare als Galionsfigur dem Buch voransteht. »Seine Werke sind einfach der größte Schritt, der jemals auf dem Weg zum Verständnis der Conditio humana gemacht worden ist. Diesen Weg gehen wir immer noch.«
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