»Simone de Beauvoir«: In Bildern denken
Als ich in der Buchhandlung meines Vertrauens nach Simone de Beauvoir frage, trägt der Chef einiges zusammen. Ihre Romane und Briefe, zwei Biografien. Dann geht er in die Kinderecke, dieses Buch wollte er mir erst nicht zeigen. Die Graphic Novel »Simone de Beauvoir: Ich möchte vom Leben alles«, geschrieben von Julia Korbik und gezeichnet von Julia Bernhard.
Ein Buch über die Philosophin, Starintellektuelle und Feministin in der Comicecke? Ist die Philosophin Popkultur oder entwickelt sich der Comic in Richtung Hochkultur oder beides? In diesem Spannungsfeld bewegt sich die gezeichnete Annäherung an de Beauvoir. Ist sie gedacht für Leser, die sich nicht an die dicken Romane und Essays trauen, oder für Eingeweihte, die offen sind für eine neue Perspektive auf de Beauvoir?
Leben schreiben, Leben zeichnen
»Mist!«, so beginnt die Geschichte und so bodenständig geht sie weiter. Deirdre Bair, Autorin der ersten großen Simone-de-Beauvoir-Biografie, irrt durch Paris und findet die Straße nicht. Sie fürchtet, zu spät zu kommen zu der strengen Philosophin, sie raucht eine Zigarette, eine Katze beobachtet sie, schließlich findet sie das Haus. Sie klingelt bei de Beauvoir, die öffnet in Morgenmantel und Hausschuhen.
Die beiden Frauen setzen sich ins Wohnzimmer, vollgestellt mit Sartre-Bildern, Büchern und Schnickschnack. Hier ist kein Sockel für die Philosophin, sondern ein privater Rahmen. Beauvoir ist nicht die strenge Denkerin in Kostüm mit Haarband und großen Ohrringen, sondern eine freundliche Frau, die sich etwas gehen lässt; die raucht und Whiskey trinkt, während sie über ihr Leben und ihre Philosophie erzählt. Das lange Interview ist die Rahmenhandlung des Comics. Erzählt wird in fünf Kapiteln, die die intellektuelle Entwicklung von Simone de Beauvoir nachvollziehen.
Memoiren einer Tochter aus gutem Hause
Mit Deirdre Bair sehen wir, wie Simone erfährt, dass sie einmal wird arbeiten müssen, um ihr Leben zu finanzieren. Eine Mitgift gibt es nicht, weil der Vater sich verkalkuliert hat. Die pubertierende Jugendliche schreckt das nicht, sie wollte ohnehin nicht heiraten und die Untergeordnete eines Mannes werden. Sie will mehr als Geschirr abtrocknen.
Mit 18 geht ihr Leben endlich richtig los. Simone beginnt zu studieren und lässt Klasse und Katholizismus hinter sich. Wir sehen sie lesen, trinken, tanzen, mit ihren Kommilitonen diskutieren. Sie lernt Jean-Paul Sartre kennen und die beiden beginnen ihr lebenslanges intellektuelles Pingpong. Wir sind dabei, als sie ihren Liebespakt schließen, in dem sie sich Freiheit und schonungslose Ehrlichkeit versprechen. Wir sehen Simone mit Freunden und Freundinnen und im Bett mit Liebhaberinnen und Liebhabern. Wir sehen, wie sie auf die Idee kommt, die Rolle der Frau zu einem philosophischen Thema zu machen, und wie sie schließlich zur Ikone der Frauenbewegung wird – mit »Das andere Geschlecht«, ihrem Einsatz in Abtreibungsprozessen, ihrem freien Lebensstil. Vieles wird gezeigt und nicht groß kommentiert. Zusätzlich zeigen die Bilder fast beiläufig die Architektur und den Stil der Zeit.
Rahmen oder Handlung
Eine zentrale Frage zu diesem Comic bleibt: Gibt es genug Handlung, um die Geschichte zu visualisieren? Reicht es für eine Bildergeschichte, einer Denkerin beim Denken zuzuschauen? Es gibt Bilder, in denen die einzige Handlung ist, dass eine Taube einer Statue auf die Schulter macht. Was beim ersten Lesen nach Verlegenheit aussieht, offenbart sich beim zweiten Mal als raffinierter Kunstgriff.
Immer wieder übernehmen in der Geschichte Tiere eine Erzählspur, die parallel zur Haupthandlung verläuft und eine metaphorische Ebene öffnet. Die Hunde, Katzen, Füchse und Kaninchen wirken auf den ersten Blick kontingent und sind doch ein Subtext, der sich erst auf den zweiten Blick erschließt. Es sind Bilder zwischen den Zeilen, gezeichnete Kommentare zu den Denkblasen, in denen sich die Philosophie entfaltet. Unser Blick wandert mit dem Blick der Protagonisten zu Katzen und Tauben. Leben und Gedanken verlaufen eben nicht linear. Ganz nebenbei erleben wir: Der Existenzialismus ist nicht am Schreibtisch entstanden, sondern im Wechselspiel mit der Welt.
Während zwei der größten Denker ihrer Zeit einen Liebespakt entwickeln, der die bestehende Gesellschaftsordnung und Geschlechterhierarchie untergräbt, kackt eine Taube einer Statue auf die Schulter. Der Pakt war fortschrittlich und radikal – aber niemand ging unversehrt daraus hervor. Auch nicht die Statue im Jardin du Luxembourg.
Wer zwei Mal hinschaut – und das werden die meisten Interessierten tun –, sieht, dass die Umgebung und die Nebenhandlung Bezugspunkte für die philosophischen Ideen sind. Durch die Bilder sehen wir, was Simone sieht. Wir schauen ihren Ideen beim Entstehen zu. Aus der Umgebung und aus der Handlung entwickeln sich Gedankenstränge, die später zu Büchern werden. Das ist der Punkt, an dem der Comic der Geschichte von Simone de Beauvoir Entscheidendes hinzufügt.
Philosophieren in Bildern
Als Deirdre Bair die Wohnung der Philosophin verlässt, ist sie längst nicht mehr aufgeregt. Zum Abschied schlägt de Beauvoir ihr auf die Schulter. Da ist keine Ikone, sondern eine ältere Frau mit einem Lebenswerk voller Wege und Umwege, die wir in Bildern und Sprechblasen nachvollziehen. Wir lesen Zitate der Zeitgenossen, wir verstehen, wie unangepasst die Freunde gedacht haben, und wir verstehen mehr vom Existenzialismus. Fast ohne es zu merken. Es ist ja nur ein Comic.
Am Ende des Buches finden sich Literaturangaben, Nachweise und ein Zeitstrahl, der vieles einordnet. Was zusätzlich – und am besten schon zum Einstieg – sinnvoll wäre, ist ein Beziehungsnetz, das all die Menschen kurz erklärt, die auftauchen. Wer sich nicht auskennt, wird Merleau-Ponty, Paul Nizan und Simone Veil schlicht überlesen. Das wäre schade. Denn das Buch funktioniert sehr gut für Leser mit unterschiedlichem Wissensstand.
Taugt die Philosophin als Comicheldin? Unbedingt. Wer sich drauf einlässt, wird die eigenen Denkmuster hinterfragen. Nichts anderes will die Geschichte. Nichts anderes will Simone de Beauvoir.
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