Wurzeln der Moral
Es muss für alle Beteiligten eine bemerkenswerte Situation gewesen sein: Der Fußballverein SV Germania Schöneiche II lag am 3. Dezember 2016 mit 0 : 1 zurück, als der Mannschaft ein unberechtigter Elfmeter zugesprochen wurde. Statt ihn eiskalt zu verwandeln, ließ der Schütze den Ball absichtlich gefahrlos auf das gegnerische Tor kullern. Es scheint, als wäre Immanuel Kants kategorischer Imperativ in die Praxis umgesetzt worden: »Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.« Doch obwohl der Spieler später sagte, er habe nicht anders handeln können, fühlte er sich ziemlich elend. Immerhin lag seine Mannschaft zurück. Moralisch korrektes Verhalten hat mitunter einen hohen Preis.
Die Psychologin Lydia Lange thematisiert in ihrem Buch grundlegenden Fragen nach »gut« und »böse« und stellt sie in einen evolutionsbiologischen Kontext. Moral interpretiert sie ebenso wie Wissenschaft, Technik und Politik als Produkt der kulturellen Evolution. Durch Moral überwinde das Individuum sein Eigeninteresse und helfe anderen. Sie sei eine nützliche Errungenschaft der Evolution, die einen Überlebensvorteil mit sich bringe.
Gehorsam den Göttern gegenüber
Lange argumentiert, der Mensch habe das weltliche Geschehen früher ursächlich auf übernatürliche Instanzen (etwa Götter oder Geister) zurückgeführt. Deren Wohlwollen versuchte man durch religiöse Rituale und bestimmte Verhaltensweisen zu beeinflussen. Das habe Moralvorstellungen hinsichtlich eines »guten« Lebens legitimiert. Ungehorsam gegenüber den Göttern sei mit dem Bösen in Verbindung gebracht worden. Davon zeuge nicht zuletzt die biblische Geschichte des Sündenfalls. Wurden moralische Werte missachtet, griffen mächtige Instanzen ein – früher die Religionsgemeinschaften, heute die Justiz oder der Staat –, um sie notfalls gewaltsam durchzusetzen.
Doch moralische Werte wie Ehre, Freiheit, Gerechtigkeit, Menschenwürde oder Selbstbestimmung seien gleichzeitig auch Idealvorstellungen, schreibt Lange. Sie gäben uns im Umgang mit anderen Personen einen Beurteilungsmaßstab und eine Richtschnur für das eigene Leben an die Hand – und brächten uns mitunter in soziale Dilemmata. Als Beispiel führt die Psychologin an, sie halte es für moralisch richtig, Flüchtlinge im Mittelmeer aus Seenot zu retten; zugleich aber sehe sie die Gefahr, dadurch unwillentlich die Arbeit von Schleppern und Schleusern zu unterstützen.
Moralisches Verhalten habe daher gesellschaftliche Rahmenbedingungen zu berücksichtigen, findet die Autorin. Sie erwartet von Politikern, dass diese »weiter sehen« als der Durchschnittsbürger, um moralische Fallen bei Entscheidungen zu umgehen. So solle man Vergeltungsmechanismen wie Sanktionen daraufhin hinterfragen, ob sie nur ein symbolisches Zeichen setzen sollen oder tatsächlich etwas nützen. Ebenso sollten politische Beschlüsse immer auf einen Kompromiss hin und nicht auf rein moralische Prinzipien ausgelegt sein. Die Gefahr, dass dadurch moralische Werte verschwimmen können, thematisiert sie nicht.
Die Empfehlungen der Autorin reißen das zu Grunde liegende Problem sicherlich nur an und erscheinen manchmal wenig originell. Dessen ungeachtet ist das Buch provokant und fordert zum Nachdenken auf. Es eignet sich für Leser(innen), die ein Interesse an ethisch-philosophischen Fragen und kultureller Evolution haben. Philosophische Vorkenntnisse sollten vorhanden sein.
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