Flügelflatternd durchs All
Schon beim optischen Erstkontakt mit diesem Buch war mir klar: Es ist ein Blendwerk. Das Titelbild stammt von Gary Tonge, einem Digital-Arts-Künstler, und zeigt einen interstellaren Rubidiumfrachter der Galorner; vielleicht auch eine Hyperraumfähre der Kraweel von Ergindwon über dem rotumwölkten Exoplaneten Tauri Simulacrum 5 – oder was weiß ich. Ich habe das Bild mal gegoogelt, es heißt »Arrival«. Eine ziemliche Tapete. Das Buchcover zeigt nur einen kleinen Ausschnitt davon. Die Zukunft im All, die hier abgebildet ist, dürfte sich um das Jahr 3500 abspielen. Oder eher noch später. Mit dem Inhalt hat es nichts zu tun. Es ist ein reiner Eyecatcher.
Über diesem Raumschiff einer weit entfernten Zukunft, ganz oben auf dem Cover, gleich neben dem Namen des Autors und in derselben Schriftgröße, steht: »Mit einem Vorwort von Hans Koenigsmann«. Wen das Titelbild noch nicht eingefangen hat, der ist jetzt am Haken. Koenigsmann ist ein deutscher Raumfahrtingenieur und gehört zur »heiligen Dreifaltigkeit« der Firma SpaceX, als da sind: Elon Musk, Gwynne Shotwell und eben Hans Koenigsmann. Wenn Koenigsmann was über Raumfahrt sagt, dann ist das für die SpaceX-Fanboys und -girls wie das Manna vom Himmel. Ich weiß, wovon ich rede, ich bin selbst ein Aficionado.
Viereinhalb Zeilen vom Meister
Also habe ich mal reingeschaut, was Koenigsmann so schreibt. Sicher was Bedeutungsschweres, bei dieser massiven Ankündigung. Nur, wo ist es? Da gibt es eine Widmung, ein Geleitwort, Danksagungen, ein Abbildungs- und Abkürzungsverzeichnis, drei Seiten Inhaltsverzeichnis und tatsächlich auch ein Vorwort. Das ist allerdings vollständig vom Autor Sven Piper. Wo in diesen 20 Seiten Vorspann ist denn jetzt der Koenigsmann abgeblieben? Beim zweiten Mal Durchblättern sehe ich es: Da gibt es – mächtig abgesetzt vom eigentlichen Text des Geleitworts (von dem ich stark annehme, dass es vom Verfasser stammt) – noch ein viereinhalb Zeilen langes Absätzchen auf der Folgeseite, das mit Koenigsmanns Namen gekennzeichnet ist. Er gibt darin eine sehr dürre, jedes Lob vermeidende Kurzbeschreibung des Buchs, die auf der Buchrückseite im Übrigen noch einmal erscheint: 47 Wörter, viereinhalb Zeilen. Wow.
Nun folgen sehr, sehr luftig bedruckte 167 Seiten Text und Bilder, bevor dann 15 Seiten Nachspann mit Erratum (da hätte viel mehr hineingehört als der einzelne Satz, der tatsächlich drinsteht) und Reklame den Abschluss bilden.
Wie ist Sven Piper, der Engineering and Project Management studiert hat und am Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt arbeitet, sein Werk angegangen? Stellen Sie sich eine immens große, bunte Blumenwiese vor. Jede einzelne Blume auf dieser Wiese steht für ein Weltraumthema. Wie wählt man da jetzt ein Sträußchen aus für ein Buch, das in Niveau und Länge nur knapp über eine Facharbeit der gymnasialen Oberstufe hinausgeht? Ich vermute, dass Piper so verfuhr: Man taumelt wie ein Schmetterling über die Wiese, lässt sich einen Moment beim ersten Thema nieder, bleibt mal ein Sekündchen beim zweiten, helikoptert kurz über dem dritten und flattert dann auf das vierte. Schwupps, hat man 50 Themen beisammen, deren Umfang jeweils zwischen wenigen Zeilen und drei Seiten variiert. Immerhin kommt dabei eine extrabunte Mischung zusammen. Die reicht von »Hermann Oberth – Der Optimist« (zwei Textseiten, ein Bild), dem »Gemini-Programm« (eine halbe Seite), »Space Shuttle und Buran« (vier Seiten, zwei Bilder), die »Bemannte Mondlandung« (drei Seiten, ein Bild) bis zu »Weltraum-Archäologie«, »Terraforming des Mars«, »Generationen-Raumschiffe«, »Vegetarismus«, »Transhumanismus« (13 Zeilen).
Die Hauptkapitel werden mit bedeutungsschweren Zitaten eingeführt und enden mit Literaturhinweisen. An denen lässt sich erkennen, dass um das Jahr 2000 herum der gesamte Erkenntnisgewinn zum Thema Raumfahrt weitgehend abgeschlossen war. Da finden sich Titel wie Günther Siefahrts »Geschichte der Raumfahrt« (2001), Carl Sagans »Blauer Punkt im All« (1996), Wernher von Brauns »Space Frontiers« (1971); Eugen Sängers »Raumfahrt heute–morgen–übermorgen« (1963) oder Willi Leys »Die Eroberung des Weltalls« (1952). Neueres Wissen fließt nur über meilenlange URL ein, die in Fußnoten aufgelistet sind. Es ist ein Wahnsinn, diese einzutippen.
Über die Beständigkeit von Internetadressen müssen wir hier kein Wort verlieren, aber ich habe dennoch einige von diesen schier endlosen Buchstaben-Zahlensalat-Sonderzeichen-Möbiusbändern ausprobiert, bin jedes Mal im Nirwana gelandet und durfte erfahren: »Oops, an error occurred!«
Die redaktionelle Bearbeitung ist mäßig. Nur ein Punkt: Es wimmelt von unnötigen Abkürzungen, und nicht nur von technischen. Warum, bitte, muss man ein Wort wie »mindestens« mit »mind.« in einem Buch abkürzen, das jede Menge teilweise oder komplett leere Seiten hat?
Und ja, ich habe mir die Mühe gemacht, das Werk zu lesen. Dann stellte ich mir die Frage: Wer kann das wohl gebrauchen? Schüler, die eine Facharbeit über Raumfahrt schreiben müssen, aber noch nie was vom Thema gehört haben? Leute, die bei einer Party mit einem Astronauten ein paar schicke Schlagworte brauchen? Oder, wenn gerade kein Astronaut zur Stelle ist, für solche Menschen, die andere mit dem Wissen beeindrucken wollen, dass dieser Musk noch was anderes macht als Elektroautos? Ja, also, ich weiß es auch nicht. Immerhin werden im hinteren Teil des Buchs ein paar interessante Themen aufgegriffen, aber immer bloß als wenige Zeilen lange Häppchen. Satt wird man davon nicht.
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