Organisiert und bewaffnet
Was ihr Äußeres betrifft, unterscheiden sich Bienen, Wespen und Ameisen erheblich voneinander, doch tatsächlich sind sie sehr eng miteinander verwandt. Dass sich diese Hautflügler nahezu überall haben durchsetzen können, führt der Berliner Entomologe Michael Ohl auf zwei große Errungenschaften der Evolution zurück: den Giftstachel und den Staat. Diesen beiden »Erfindungen« der Natur widmet er dieses Buchs. Ohl ist Taxonomie-Spezialist und forscht am Berliner Naturkundemuseum über Hautflügler.
Von den über 150.000 Hautflüglerarten, die man heute kennt, sind ungefähr die Hälfte mit einem Stachel ausgerüstet, wie der Autor schreibt; und von den bestachelten Arten wiederum bilden viele komplexe, arbeitsteilig organisierte Staaten. Die meisten stechenden Hautflüglerarten jedoch – mit Ausnahme der Ameisen, die immer Staaten bilden – leben solitär. Das heißt, die Weibchen versorgen den Nachwuchs selbst mit Nahrung, es gibt keine Arbeiterinnen, und der Giftstachel dient in erster Linie als Angriffswaffe. So jagen viele Wespemweibchen Insekten, die sie mit einem Stich dauerhaft lähmen und danach in ihr Nest befördern. Dort wird die Beute nach und nach an die Larven verfüttert.
Schutz vor Räubern
Wie Ohl darlegt, sind die arbeitsteilig organisierten Staaten der Bienen, Wespen und Ameisen sehr wehrhaft und ermöglichen die effiziente Nutzung von Ressourcen. Doch die ungeheuren Mengen an Nahrung, die in den Nestern dieser Hautflügler stecken, lockten etliche Räuber an, die allein mit dem Giftstachel bekämpft werden können. Dabei gelte: Je größer ein Nest, je mehr es dort also zu holen gibt, desto stärker das Gift der Verteidiger.
Nach Auffassung des Autors ist für Hautflügler, die zustechen, das Risiko meist hoch, daran zugrunde zu gehen. Sein Paradebeispiel hierfür ist die Honigbiene. Er räumt allerdings ein, dass es Wespenarten gibt, die ohne weiteres mehrere Male zustechen können. Diese Auffassung ist allerdings nicht unumstritten. Der Bienenforscher Jürgen Tautz hält dagegen, der Stachel der Honigbiene käme lediglich mit menschlicher Haut nicht zurecht, in der er stecken bleibe und für das Insekt zur Todesfalle werde.
Es gibt in Staaten lebende Bienen-, Wespen- und Ameisenarten, denen der Stachelapparat abhanden gekommen ist. Warum, ist noch nicht völlig geklärt. Ohl vermutet, dass diese sich nicht gegen räuberische Säugetiere oder Vögel zur Wehr setzen müssen, sondern gegen die Angriffe von Ameisen und anderen Insekten. Gegen solche Feinde ist es offenbar effizienter, chemische Kampfstoffe oder Bisse einzusetzen.
Seit Tausenden von Jahren dienen stechende Hautflügler als biologische Kampfmittel in kriegerischen Auseinandersetzungen. Noch im Vietnamkrieg haben Vietcong sowohl Bienen- als auch Wespennester eingesetzt, um amerikanische Panzerbesatzungen zu bekämpfen. Doch erst seit kurzem hat man erkannt, welchen Nutzen die hochwirksamen und äußerst zielgenau eingesetzten Gifte der Hautflügler für die Medizin haben könnten. Der Autor nennt einige Beispiele. So lähmt die Schabenwespe mit einem Stich kurzzeitig das vordere Beinpaar einer Schabe, schaltet dann mit einem weiteren Stich deren Fluchtreflex aus und führt das willenlos gewordene Opfer in ihren Bau. Wie das Toxin diese Funktionen erfüllt, ist aus pharmakologischer Sicht hochinteressant. Und die Bienenwolfweibchen versorgen ihre Larven mit neun antibiotischen Substanzen, um ihren Nachwuchs vor Mikroorganismen zu schützen.
Ohl analysiert außerdem die Koevolution und enge wechselseitige Abhängigkeit von Hautflüglern und Blütenpflanzen und beschreibt, wie die Insekten im Austausch gegen ihre Bestäubungstätigkeit von den Pflanzen mit Nahrung, Baumaterialien, Wärme, Jagdplätzen und anderem »versorgt« werden. Er erläutert, wie die Honigbienen das Kunststück zustande bringen, vollkommen ebenmäßige hexagonale Zellen zu bauen, deren Innenwände völlig glatt und immer exakt 0,07 Millimeter dick sind. Und er beschäftigt sich mit jenem rätselhaften Phänomen, über das sich schon Charles Darwin den Kopf zerbrochen hat: Wie nämlich die Evolution der hoch differenzierten Kastensysteme der Hautflügler überhaupt möglich ist, wenn ein einziges weibliches Tier die Eier legt, während die sterilen Arbeiterinnen außerstande sind, ihre Erbanlagen an den Nachwuchs weiterzugeben. Die Weibchen verfügen über einen doppelten Chromosomensatz, die Männchen lediglich über einen einfachen, den sie komplett auf ihre weiblichen Nachkommen übertragen. Und da alle Weibchen aus befruchteten, alle Männchen hingegen aus unbefruchteten Eiern hervorgehen, ergeben sich ungewöhnliche Verwandtschaftsverhältnisse: Jeder Vater ist mit jeder seiner Töchter zu 100 Prozent verwandt, und Schwestern sind miteinander näher verwandt als mit ihrer Mutter.
Schließlich behandelt der Autor die vielfältigen Ursachen des gegenwärtigen Insektensterbens. Dabei macht er auf einen wenig bekannten Umstand aufmerksam: Die Honigbiene, wichtigste Bestäuberin überhaupt und angeblich erstes Opfer des großen Kerbtierschwunds, gefährde selbst die Biodiversität. Sie sei nämlich durch Züchtung genetisch dermaßen verändert worden, dass sie im Unterschied zu sämtlichen wilden Blütenbestäubern diverse Pflanzenarten bestäube – und das nahezu das ganze Jahr hindurch und bei fast jeder Witterung. Dadurch könnten aber diejenigen Arten in Bedrängnis geraten, die ihre Nahrung von diesen Pflanzen beziehen. Im übrigen schlägt Ohl seinen Lesern vor, im Garten oder auf dem Balkon anstelle von exotischen Ziergewächsen lieber Wildblumen und Wildkräuter anzupflanzen, um Insekten anzulocken, die auf deren Bestäubung spezialisiert sind.
Ohls Buch ist tatsächlich, wie sein Untertitel verspricht, eine »leidenschaftliche Naturgeschichte von Bienen, Wespen und Ameisen«. Der Autor schreibt präzise, anschaulich und elegant und vermittelt eine Fülle verblüffender Erkenntnisse. Ein exzellentes und allen Interessierten zu empfehlendes Werk.
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