»Stille Killer«: Keine Lust mehr auf Fast Food
Rund 40 Prozent der Erwachsenen weltweit leiden unter massivem Übergewicht. Die Statistik zu Fettsucht hat laut WHO seit 1975 einen Zuwachs von 300 Prozent verzeichnet – eine nicht zu verachtende Menge. Vor allem nicht, wenn man bedenkt, welche Folgeerkrankungen Adipositas mit sich bringt: Bluthochdruck, Herz- und Gefäßleiden, Leberverfettung, Diabetes und Krebserkrankungen. Viele Übergewichtige leiden unter ständigem Hungergefühl, das sie nicht regulieren können. Sie machen häufig unterschiedliche Diäten und unterziehen sich im Extremfall mehrerer Operationen, um wieder ein leichteres Leben zu haben.
Wie kommt es dazu? Die Journalisten Wilfried Bommert und Christina Sartori erklären das in ihrem Buch »Stille Killer – Wie Big Food unsere Gesundheit gefährdet«. Sie gehen auf die Entstehung, Methoden und Ziele der Ernährungskonzerne ein – und damit auf die Ursache der Fettsucht vieler Menschen.
Mehr essen, ohne es zu merken
Verwendet werden die preiswertesten Rohstoffe der Industrieernährung wie Zucker, Fette und Salz – und davon möglichst viel. In Laboren tüfteln Lebensmitteltechniker an einer süchtig machenden Kombination, bis mit genügend Zusätzen der »bliss point« erreicht ist, sowohl geschmacklich als auch preislich. Dadurch sind die Produkte dicht mit Kalorien bepackt, sie können das Hungergefühl verfälschen, Hormone ausschütten, Abläufe im Gehirn beeinflussen sowie Organe schädigen. Menschen haben deswegen ein Leben lang Hunger, obwohl sie immer mehr verzehren. In kurzen Passagen erklären Sartori und Bommert, wie uns das dazu bringt, mehr zu essen, ohne es zu merken. Ein Kreislauf beginnt.
Überraschend ist, dass Nestlés erstes Produkt im 19. Jahrhundert eine Lösung für Hunger, Unterernährung und Kindersterblichkeit bot. Denn damals galt das Stillen in gehobenen Kreisen als unschicklich, während Arbeiterinnen oft keine Zeit hatten oder krank waren. Zum Stillen gab es wenige Alternativen, da die Lagerung von Lebensmitteln schwierig war, ebenso wie die Hygienebedingungen. Da kam »Henry Nestle's Kindermehl« aus kondensierter Alpenmilch, Kaliumkarbonat und zwiebackähnlichem Brot aus Weizenmehl sehr gelegen.
Es begann mit einer kleinen Fabrik, die mit der Zeit wuchs. Doch ebenso wie andere Konzerne (darunter PepsiCo, Danone, Kraft Heinz und Mondelez International) entwickelte sich Nestlé schließlich zu einem Riesenkonzern. Mit neuen Technologien schritt die industrielle Nahrungsproduktion rasch voran. Die Fertigsuppe wurde in den Nachkriegsjahren das neue Statussymbol von Frauen, wie sich sicher einige aus der Großelterngeneration noch erinnern.
Die Lebensmittelkonzerne bestimmen auch auf den Feldern mit. Weniger Ernteausfall und mehr Ertrag sollten mehr Profit bringen, weshalb süßerer und ertragsreicherer Mais gezüchtet wurde. Die meisten gesünderen Sorten verschwanden dadurch vom Markt. Das traditionelle Ernährungsangebot wurde allmählich von den Tellern verdrängt.
Die landwirtschaftlichen Subventionen machen es inzwischen möglich, dass »ultra-processed foods« teilweise so günstig angeboten werden, dass ihre Entstehungskosten nicht mehr gedeckt sind. Und auch in den Supermärkten kontrollieren die Konzerne das Essen. Über Jahrzehnte hinweg erwerben die Unternehmen viele Sparten, der Aktienwert multipliziert sich ins Mehrfache. Mittlerweile liefern vier Konzernriesen 40 Prozent der Produkte in den Regalen.
Solange Profit die erste Priorität von Unternehmen ist – auch in der Ernährungsbranche –, wird sich am ungesunden Ernährungsangebot nicht viel ändern. In dieser Branche ist die Marge vergleichsweise niedrig, weshalb Lebensmittelkonzerne besonders aggressiv und über alle Kanäle an die Kunden herantreten. Welche Tricks sie anwenden, wie sie Kunden verführen und was sie nicht dürfen, machen die Autoren deutlich.
Weil die Märkte vieler Industrieländer schon ausgereizt sind, fokussieren sich die Konzerne auf den globalen Süden. Sie bieten neben günstigen Produkten auch neue Arbeitsplätze. Durch Küchenshows auf dem Land oder Maggiwürfel-Lieferung per Fahrrad erreichen die Produkte jeden noch so abgelegenen Ort der Welt. Dafür werden die Unternehmen auch politisch aktiv: Sie schaffen Handelsabkommen, mischen in der Politik mit, gründen und finanzieren eigene Wissenschaftskomitees, um ihr schlechtes Image aufzupolieren. Die in der Presse aufsehenerregendsten moralisch verwerflichen Aktionen haben die Autoren nur am Rande, teilweise bloß in einem Nebensatz genannt.
Bommert und Sartori ziehen über das Buch hinweg Parallelen zur Tabakindustrie, die im 20. Jahrhundert sowohl einen steilen Aufstieg als auch einen tiefen Fall erlebte. Der Untergang von Big Tobacco liefert Positivbeispiele und Methoden, um die Macht großer Konzerne der Ernährungsbranche zu schwächen. Die Autoren nennen gute Lösungen und bereits eingetretene Erfolge, von denen man sich wünschte, sie würden stärker verbreitet, wie die »NOVA food classification« des Wissenschaftlers Carlos Monteiro und seiner Kollegen.
Im Buch sind Grafiken und Tabellen abgebildet, die den Text unterstützen: etwa das Marketingbudget diverser Food-Konzerne und ihre Geschäftsentwicklungsinitiativen in der Praxis. Für Einsteiger bietet dieses Buch einen Überblick über die Entwicklung der großen Food-Konzerne. Auch wer sich schon mit Big Food beschäftigt hat, wird vereinzelt neue Informationen erhalten und einige Fallbeispiele aus der jüngsten Vergangenheit lesen können. Egal ob Einsteiger oder informierter Leser: Auf Fertigessen hat man danach vermutlich keine Lust mehr.
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