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"Todesengel" im Gesundheitswesen

2015 sorgte der Fall Niels H. bundesweit für Schlagzeilen: Der Krankenpfleger spritzte mindestens 43 Patienten eine tödliche Dosis eines Herzmedikaments. Solche Verbrechen passieren in deutschen Kliniken und Heimen häufiger, als viele annehmen – so lautet die These des Psychiaters Karl Heinz Beine. Bereits im Jahr 2010 hatte er das in seinem Buch "Krankentötungen in Kliniken und Heimen" belegt. Darin analysierte er juristisch aufgearbeitete Fälle von "Todesengeln" in Kliniken und Heimen (etwa Krankenschwestern, Pflegerinnen und Pfleger), die systematisch Patienten und Pflegebedürftige ermordet und misshandelt hatten. Im vorliegenden Band legt Beine nun nach und nennt, gemeinsam mit der Medizinredakteurin Jeanne Turczynski, die Zahl von möglicherweise 21.000 getöteten Patienten pro Jahr.

Maßgeblich verantwortlich für diesen Skandal sei das marode Gesundheitswesen, das Profit, Apparate und Pharmazeutika in den Fokus nehme, Patienten zu "Kunden" mache und Pfleger sowie Ärzte zu "Leistungserbringern" degradiere. Dieses Arbeitsumfeld, in dem das medizinische Personal überfordert und gestresst sei und Fehler nicht aufgearbeitet würden, begünstige Gewalt und deren Vertuschung. Daher plädieren die Autoren für eine Systemkorrektur: Sie fordern, Menschen in medi­zinischen Berufen besser auszubilden, im Berufsalltag zu begleiten und zu entlasten.

Dramatische Botschaft, dünne Beweislage

Dass in deutschen Kliniken etliches schief läuft und die Bedingungen für Ärzte und Pfleger dringend verbessert werden müssen, steht außer Frage. Aber lassen diese Umstände Menschen tatsächlich in derart großer Zahl zu Mördern werden? Dafür liefern Beine und Turczynski nur äußerst dürftige Belege, der Zusammenhang bleibt spekulativ.

Die genannte Ziffer von 21.000 Tötungen stammt aus einer Umfrage unter zirka 5000 Ärzten und Pflegern, die angeben sollten, ob sie selbst schon einmal das Leiden eines Patienten aktiv beendet oder von einem solchen Vorfall gehört hatten. Die Befragung war allerdings nicht repräsentativ und ihre Hochrechnung auf ganz Deutschland daher problematisch. Zudem differenzierte sie nicht sauber – die Teilnehmer könnten die Frage beispielsweise auf das Abschalten von lebenserhaltenden Maschinen gemäß einer Patientenverfügung bezogen haben, was aus der Erhebung nicht hervorgeht. Und wenn die Autoren schreiben, Medikationsfehler würden bei einem Prozent der Patienten auftreten, also bei "jedem zehnten von Tausend", lässt das entweder auf mangelnde Statistikkenntnisse oder Nachlässigkeit ­schließen. Zwar sensibilisiert der Band für ein wichtiges Thema, alles in allem ist die Beweis­lage aber recht dünn für eine so dramatische Botschaft.

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