Schicksalhafte Gemeinschaft
Eigentlich müsste die Labormaus Menschenmaus heißen, finden die Fotografen Heidi und Hans-Jürgen Koch. Denn so unterschiedlich unsere Spezies auch aussehen mögen: Biologisch sind wir uns sehr ähnlich. 95 Prozent der Gene, die eine Maus trägt, besitzen wir in ähnlicher Form. Viele Krankheiten haben bei beiden Arten dieselbe genetische Ursache.
Für jede Humankrankheit ein Mausmodell
Der Mensch habe sein Schicksal an das der Maus gekoppelt, heißt es im Vorspann des Buchs. Das klingt im ersten Moment etwas übertrieben, ist im Kern aber richtig. Denn die medizinische Forschung konzentriert sich zu einem großen Teil auf die Nager. Für fast jede Humankrankheit gibt es heute ein Mausmodell. Erst wenn ein potenzielles Medikament beim Tier die gewünschte Wirkung zeigt, wird es an Menschen getestet.
Auf zwei Seiten präsentieren die studierte Sozialarbeiterin und der Verhaltensforscher die Geschichte – oder, wie sie es nennen, die »steile Karriere« – der Labormaus. Im restlichen Teil des Werks lassen sie Bilder sprechen. Das Autorenpaar, das in seiner mehr als 25-jährigen, gemeinsamen Fotografenkarriere schon zahlreiche Preise und Auszeichnungen gewonnen hat, will den Mäusen ihre »Individualität und Persönlichkeit« zurückgeben. Denn die Nager, mit denen Forscher arbeiten, sind genetisch weitgehend identisch: »Tagtäglich werden Legionen von Labormäusen als eine anonyme Masse Tiermaterial produziert und verbraucht«, schreiben die Kochs. Damit appellieren sie auch an die Moral und Ethik der Wissenschaft.
Im Vordergrund stehen aber ganz klar die Tiere selbst. Heidi und Hans-Jürgen Koch stellen die »Stars der Labormäuse« vor, sprich die meistverwendeten Stämme. Sie nehmen ungewohnte Perspektiven ein, begegnen den Mäusen auf Augenhöhe, kommen ihnen sehr nahe und bleiben doch auf respektvoller Distanz. Das Spiel mit Licht und Schatten unterstützt diesen Eindruck: Die Tiere sitzen oft vor einem dunklen Hintergrund oder sind nicht vollständig ausgeleuchtet.
Manche Bilder zeigen nur bestimmte Körperteile in starker Vergrößerung, etwa ein Ohr mit all seinen feinen Äderchen. Dennoch tun die Kochs es nicht den Forschern gleich, die sich häufig auf winzige Details konzentrieren und darüber das restliche Tier vergessen. Die Autoren setzen die Tiere in all ihren Facetten in Szene: kraftvoll im Sprung, neugierig schnüffelnd, als soziale Wesen, inmitten einer Gruppe, beinahe menschlich – und manchmal ganz verletzlich und filigran. Die Bilder von nackten, fast durchsichtigen Neugeborenen gehen manchem Betrachter sicherlich unter die Haut. Blind und völlig hilflos liegen sie da, allein oder auf einem Haufen, sind von der Gunst der Wissenschaftler abhängig. Nicht nur wir haben unser Schicksal an die Maus gekoppelt – ihres ist auch fest mit unserem verbandelt. Nur dass die Nager nie eine Wahl hatten. Wer sich auf das Buch einlässt, dem eröffnet es einen neuen Blickwinkel auf die Beziehung zwischen Menschen und Mäusen. In jedem Fall regen die Fotos zum Nachdenken an.
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