»The Journey of Humanity«: Die Versorgungslücke und die Zeit danach
Für einen Menschen der Antike müsste es ein Schock sein, wenn er in einer Zeitmaschine in die Welt des 21. Jahrhunderts reisen würde. Dagegen könnte er sich trotz vieler historischer Veränderungen wohl in den Lebensbedingungen des 17. oder 18. Jahrhunderts zurechtfinden. Denn diese unterscheiden sich weniger von seiner eigenen Zeit als die technologische Entwicklung und die Konsumkultur unserer Tage. Trotz aller Umbrüche und Veränderungen verlief die Entwicklung der alltäglichen Lebensbedingungen den größten Teil der Menschheitsgeschichte erstaunlich gleichförmig. Erst vor 200 Jahren setzte mit der Industrialisierung ein Wandel ein, der zumindest für einige Regionen der Erde ein enormes Wirtschaftswachstum, immense technologische Entwicklungen, eine Bevölkerungsexplosion, aber auch große Ungleichheiten mit sich brachte. Dies Entwicklung ist nicht beendet, sie dauert bis heute fort.
Der israelische Wirtschaftswissenschaftler Oded Galor befasst sich in seinem neuen Buch mit den Triebkräften der gleichförmigen Entwicklung bis zur industriellen Revolution, des anschließenden wirtschaftlichen und demografischen Wachstums sowie der heutigen globalen Spaltung in arme und reiche Regionen.
Von der Frühgeschichte der Menschen bis in die Gegenwart
Dazu teilt er seine Darstellung in zwei große Abschnitte. Der erste beginnt mit der frühen Migration aus Afrika in andere Kontinente und behandelt den größten Teil der Menschheitsgeschichte. Die evolutionäre Entwicklung des Gehirns ermöglichte die enorme Anpassungsfähigkeit des Menschen an seine Umweltbedingungen und damit sein Überleben. Durch die Sesshaftwerdung entwickelten sich neue landwirtschaftliche Anbaumethoden und gesellschaftliche Spezialisierungen.
Galor zeigt aber auch, dass die Menschen trotz der Entwicklung vieler Hochkulturen, die zeitweilig zu großer Blüte kamen, in ihren Lebensbedingungen nicht über das Existenzminimum hinausgelangten. Den Grund sieht er in der so genannten »malthusianischen Falle«. Dabei handelt es sich um das erstmals von dem britischen Ökonomen Thomas Robert Malthus (1766–1834) beschriebene Phänomen, dass die Produktion von Nahrungsmitteln nie so schnell gewachsen ist wie die Größe der Bevölkerung. Galor berücksichtigt auch geografische, kulturelle sowie gesellschaftlich-institutionelle Faktoren der Kulturentwicklung. Doch die immer größer werdende Versorgungslücke zwischen einer exponentiell wachsenden Bevölkerung und einer nur linear wachsenden Nahrungsmittelproduktion habe unterm Strich immer hemmend auf den menschlichen Wohlstand und die Bevölkerungsentwicklung gewirkt.
Im zweiten Teil des Buchs beschreibt Galor, wie es durch die industrielle Revolution seit dem 19. Jahrhundert gelang, der malthusianischen Falle zu entkommen. Es sei ein dynamisches Wechselspiel zwischen Bevölkerungsentwicklung, evolutionärem Überlebenskampf, technologischer Entwicklung und speziellen kulturellen Rahmenbedingungen. Basierend auf Werten wie Individualismus und Säkularisierung entstanden neue Technologien, die eine immer größere Kontrolle über die Umwelt, neue Produktions- und Anbaumethoden ermöglichten. In diesem Zusammenhang verschweigt Galor nicht die massiven sozialen Probleme wie Armut und Kinderarbeit, welche die Industrialisierung in Europa und Amerika mit sich brachte. Andererseits stieg der Bedarf an Fachleuten, den eine verbesserte Schul- und Ausbildung decken konnte. So wurden Wirtschaftswachstum und Bevölkerungsentwicklung voneinander entkoppelt und in den heutigen europäischen und nordamerikanischen Ländern ein immenser Wohlstand erzeugt. Während die Lebenserwartung, die Alphabetisierungsrate und das Pro-Kopf-Einkommen seit dem 19. Jahrhundert in den vom wirtschaftlichen Wachstum betroffenen Regionen stark anstieg, ist die Geburtenrate gesunken.
Doch die Umweltzerstörung nimmt heute bedrohliche Ausmaße an und die Ungleichheit zwischen den Regionen der Erde wächst. Ursachen für diese Entwicklung sieht Galor in der Kolonialpolitik sowie der heutigen Globalisierung. Zur Behebung der Ungleichheit ist es seiner Meinung nach falsch, von Entwicklungsländern zu erwarten, dass sie einfach die wirtschaftlichen und technologischen Maßnahmen nach dem Vorbild der Industrienationen kopieren. Stattdessen sieht er auch hier im Humankapital den entscheidenden Faktor: Bildung und Ausbildung müssen gefördert und der soziale sowie kulturelle Zusammenhalt gestärkt werden.
Viele der dargestellten Zusammenhänge sind keineswegs neu, werden aber verständlich herausgearbeitet: Dazu zählen die malthusianische Bevölkerungsentwicklung des ersten Teils ebenso wie die verheerenden Auswirkungen der Kolonialgeschichte auf die heutigen Entwicklungsländer oder eine sich auf wirtschaftlich einträgliche Regionen konzentrierende wirtschaftliche Globalisierung. In seiner Bewertung demografischer, geografischer und institutioneller Faktoren sowie des Humankapitals für Wachstum und Wohlstand hat Galor sicher Recht. Doch es bleibt nach wie vor die Frage nach dem richtigen Ansatz, um die Ungleichverteilung von Wohlstand und Wachstum zu beenden – ebenso nach dem Willen dazu seitens der Wohlstandsgesellschaften.
Galors Buch spannt einen weiten Bogen von der Frühgeschichte des Menschen bis in die Gegenwart. Es richtet sich an historisch und wirtschaftspolitisch interessierte Leserinnen und Leser.
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