Blumenstrauß der Mathematik
Seit einigen Jahren berichtet das englischsprachige Online-Magazin »Quanta«, getragen von der Wissenschaftsstiftung »Simons Foundation«, aus der Welt der Wissenschaften. Dabei nimmt – dem Stiftungsprogramm entsprechend – die Mathematik eine herausragende Stellung ein. Dieses Buch versammelt ausgewählte Beiträge der ersten Jahrgänge.
Zu den behandelten Themen gehört eine »Verschwörungstheorie der Primzahlen«: Es sieht so aus, als wäre es den Primzahlen wichtig, wer unter ihresgleichen ihre nächsten Nachbarn sind. Enden sie mit der Ziffer 9, so ziehen sie es anscheinend vor, wenn die Nachfolgerin auf 1 endet, und schätzen es überhaupt nicht, wenn diese ebenfalls als letzte Ziffer die Neun hat. Solche Merkwürdigkeiten findet man leicht, indem man den Computer die Endziffernpaare benachbarter Primzahlen auszählen lässt. Aber niemand hatte sich diese Mühe gemacht, bis im März 2016 die Mathematiker Kannan Soundararajan und Robert Lemke Oliver von der Stanford University die Ergebnisse entsprechender Auszählungen veröffentlichten – und großes Erstaunen auslösten.
Hilfreich auch für Fachleute
Natürlich ist es Unfug, den unschuldigen Primzahlen irgendwelche Vorlieben oder Abneigungen zuzuschreiben. Das gilt ebenso für die verbreitetere Vorstellung, die Verteilung der Primzahlen sei vom Zufall bestimmt. Aber solche Denkansätze helfen dem Verständnis ungeheuer auf, selbst dem der Fachleute, auch wenn diese solche Quellen der Erkenntnis nicht in ihren wissenschaftlichen Veröffentlichungen aufzuführen pflegen.
Umgekehrt erfordert es ein tiefes Verständnis und viel Mühe, aus einem derartigen, streng formal strukturierten Text entsprechend anschauliche Vorstellungen zu extrahieren. Genau das leistet seit einigen Jahren »Quanta« unter dem Chefredakteur Thomas Lin, und zwar so überragend gut , dass beträchtlicher Ressourceneinsatz dahinter stecken muss. Die drei Hauptautoren Kevin Hartnett, Erica Klarreich und Natalie Wolchover schreiben in lockerem Stil, aber dennoch präzise, drücken sich elegant um problematische Details und hören rechtzeitig auf, bevor es zu schwierig wird – und zwar ohne, dass bei den Lesern ein frustrierter Nachgeschmack bleibt. Obendrein sind sie manchmal atemberaubend schnell: Ein Bericht davon, dass der Fields-Preisträger Peter Scholze dem ebenfalls renommierten Shinichi Mochizuki einen Fehler in dessen Beweis der ABC-Vermutung nachwies, erschien am selben Tag wie Scholzes wissenschaftliche Arbeit zum Thema.
Nicht von ungefähr hat Spektrum der Wissenschaft zahlreiche Artikel aus »Quanta« übernommen. Bei der hohen Qualität der Beiträge stören auch gewisse stilistische Eigenheiten nicht – etwa der, dass jedes Stück auf die Person einer Wissenschaftlerin oder eines Wissenschaftlers fokussiert und deren Forschungsergebnis nur als einen von mehreren Aspekten behandelt. Und stets wird die Meinung eines Prominenten zum Thema zitiert, auch wenn sie nur in der Aussage »Dieses Ergebnis ist bedeutend« besteht.
Nun gibt es all jene schönen Artikel online zur freien Verfügung – gut verlinkt, farbenfroh bebildert und kostenfrei. Ist es wirklich sinnvoll, Geld auszugeben, um die gleichen Texte in diesem Buch auf Papier gedruckt zu erhalten, unter Verzicht auf die meisten Abbildungen, darunter sämtliche Forscherporträts? Die persönliche Antwort des Rezensenten: Ja, trotzdem. Natürlich könnte man sich auch vor dem Bildschirm die Muße nehmen, die es braucht, um die nicht einfachen Gedankengänge zu erfassen. Aber das fällt im Lehnstuhl einfach leichter.
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